Gestern hatte ich ein langes Gespräch, das viel in mir bewegt und die Transition ein wenig in den Gesamtkontext „Leben“ hineingeruckelt hat. Ein Versuch der Einordnung und Gedankenklärung.
Ihr Lieben,
dieser Artikel wurde aus dem Gefühl heraus geboren, mein gestriges Gespräch schriftlich zu verarbeiten, flankiert von der Sorge, die Verbindung zur Transition könnte dabei unter die Räder kommen. Im Zuge der schleichenden Veränderungen mit Julia’s Journey entschloss ich mich dann jedoch dazu, es dennoch an dieser Stelle niederzuschreiben und mein Bestes zu geben, die Transition dabei nicht ganz so kurz kommen zu lassen.
An dieser Stelle auch ein ganz spezieller Gruß an meine allerliebste J., die sich über einen deutlich reduzierten Anteil an Pferde-Content freuen wird. Hab dich lieb, Süße! 😉
Nun denn. Einige von euch werden wissen, dass ich seit vergangener Woche nach langer Pause wieder in den Job eingestiegen bin. Zunächst mit 100%. Das fühlte sich nach einem echt großen und anstrengenden Schritt an. Nach einigen Tagen Arbeit kann ich jedoch sagen: ich bin weitgehend wieder im Sattel (sorry für den Wortwitz, der musste sein). Dennoch wollte ich gerne die Hilfe annehmen, die mir eine Freundin/Kollegin kurzentschlossen angeboten hatte (ja, ich lerne langsam, Hilfe anzunehmen – obgleich es sich manchmal immer noch komisch anfühlt).
Besagte Freundin hatte mir während meiner Abwesenheit einen Kontakt zu unseren sozialen Diensten verschafft und der entsprechende Termin in vertraulichem Rahmen fand dann eben gestern statt. Wir redeten über 90 Minuten, streiften allerhand Themen, die ich hier gar nicht alle aufführen kann und mag. Ausgangspunkt war jedenfalls eine schrittweise Wiedereingliederung in den Job und die Kernaussage des gesamten Termins war am Ende:
Du bestimmst, was gut für dich ist.
Tue das, was dir gut tut und tue mehr davon.
Damit ist dann eigentlich alles gesagt, Ende des Artikels. 😉 Bitte geht weiter, hier gibt es nichts zu sehen…
Oh, nein! Natürlich ist das völliger Unsinn! Sonst hätte ich mir das hier auch alles sparen können. 🙂
Also gut, weiter im Text.
Ausgehend von dieser zentralen Aussage des Coaches machte sich die Frage im Raum breit, was genau mir denn eigentlich gut tut und wovon ich gerne noch mehr machen könnte. Oder anders gefragt: was fehlt mir? Und genau an dieser Stelle schließt sich der Kreis zur Transition, denn wie ich bereits in früheren Artikel schrieb, mach(t)e ich mir dann und wann Gedanken darüber, was denn nach der Transition kommt? Das große Lebensziel ist dann erreicht, was kann da schon noch kommen? Will sagen: die Vision im Leben fehlt. Der Fokus auf etwas Neues, das es genauso wert ist, gelebt zu werden.
Und nachdem ich meinem Gegenüber mit scheinbar viel Enthusiasmus von den tollen Dingen berichtete, die ich während meiner Abwesenheit zwecks Gesundung getan oder angefangen habe, fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren! Eigentlich habe ich doch alles in der Hand, was ich brauche! Ich habe meine beste Freundin, mit der ich alles teilen kann. In guten und in schlechten Zeiten. Ich habe all meine anderen Freundinnen und Familie, die ebenfalls immer für mich da sind und umgekehrt. Ich habe das Reiten. Ich schreibe gerne, habe die RHEIN*BOWS. Ich gehe gerne wandern, liebe es zu kochen und ich kann mich auch wieder zum Joggen motivieren. Und und und. Wie ein aufgefächerter Stapel Karten breiteten sich all diese Dinge vor mir aus und mir wurde klar: diese Angst vor der fehlenden Vision ist völlig unnötig. Alles, woran ich außerhalb der Transition Freude habe, ist schon als Ressource in meinem Leben! Und womöglich kommen noch neue Dinge dazu.
Mein Gesprächspartner wiederholte seine zentralen Worte und Erinnerungen stiegen in mir auf. An meine Kindheit, Schulzeit, meine Ehe und allerhand Begebenheiten dazwischen.
Du bestimmst, was gut für dich ist.
Tue das, was dir gut tut und tue mehr davon.
„Fällt dir noch etwas ein? Oder hast du noch eine Frage?„, nahm der Coach den Faden wieder auf, als ich für einige Augenblick gedankenverloren an die Wand mit der simplen Wanduhr schaute. „Ja„, erwiderte ich zögerlich. „Da wäre noch was. Sag, ab wann wird diese Selbstfürsorge egoistisch im negativen Sinne? Ich meine…wo zieht man da die Grenze?“
Gegenfrage: „Hast du diese Erfahrung schon einmal gemacht?“ Oh ja. Nicht nur einmal. Ich wurde so erzogen, dass die Bedürfnisse anderer wichtiger sind, als meine eigenen. In der Schule wurde mir das vermittelt und in meinem späteren Leben gab es auch haufenweise Situationen, wo meine Grenzen, mit dem Vorwurf des Egoismus, aggressiv überschritten und nicht akzeptiert wurden. Eine ziemliche Hölle für einen hochsensiblen Menschen wie mich. Heute betrachte ich das Ganze aus einem anderen Blickwinkel, zumal mir Transition sehr viel dabei geholfen hat, für mich und meine Bedürfnisse einzutreten. Dennoch sitzen diese Muster derart tief, dass Selbstfürsorge unweigerlich mit einem schlechten Gewissen und dem Selbstvorwurf des Egoismus einhergeht. Bis heute.
Leider lautete die abschließende Antwort auf meine Frage: „Das kannst du nur selbst herausfinden. Aber was ist denn zum Beispiel mit deiner besten Freundin? Frag sie doch mal. Und alle anderen in deinem Umfeld. Was denkst du, würden sie sagen? Halten sie dich für egoistisch?“ Mich beschlich der zarte Gedanke, dass mich vermutlich niemand ernsthaft für egoistisch halten würde, dennoch hätte ich das zu diesem Zeitpunkt nicht beschwören können. Zu stark ist meine innere Kritikerin. Wie hatte ich sie nochmal genannt? Pia, glaube ich. Genau. Die liebe Pia…
Wie dem auch sei…während der gesamten Transition hatte ich oft Selbstzweifel in Bezug auf das Egoismusthema. Zwar sagte mein Therapeut immer wieder: „Das ist jetzt IHRE Zeit und IHR Leben! Sie waren lange genug nur für andere da, jetzt sind SIE mal dran!“ Und seine Worte trage ich täglich in meinem Herzen, wenn Pia mal wieder die Keule auspackt. Dennoch bleibt es ein innerer Kampf und es erscheint mir beinahe unmöglich, hier eine gesunde Balance zu finden.
Stabilität
Nun ging es in unserem Gespräch ja auch darum, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. In allen Lebensbereichen. Wir sprechen also von Konstanz und Stabilität. Nicht nur einmal habe ich in den letzten Monaten von verschiedenen Seiten gehört, dass die letzten Jahre auch sehr heftig und bewegt waren. Allen voran durch die Transition. Eine Freundin ließ mich zudem wissen, welch große Bewunderung sie dafür habe, mit welcher Power ich durch all das hindurch gegangen sei. Witzigerweise hatte sich das für mich nicht nach „volle Power“ angefühlt. Die Quittung bekam ich dann aber möglicherweise doch in Form der Depression – obgleich ich nicht sagen kann, was eigentlich genau der Grund dafür war.
Konstanz. Stabilität. Eigentlich Werte, die mir wichtig sind, da sie das Leben entspannter machen und mein Bedürfnis nach Sicherheit erfüllen. Andererseits habe ich, wir erinnern uns, eine Scannerpersönlichkeit und hasse nichts mehr als Eintönigkeit. Ich brauche Abwechslung in meinem Leben. Meine Freundinnen und meine Töchter mögen bezeugen, dass bei mir zum Beispiel selten das gleiche Rezept zweimal gekocht wird. 🙂 Was mir an diesem Umstand dann aber zu denken gab, war die Außenwahrnehmung des Coaches:
„Du bist wahnsinnig flexibel und das ist ein großes Talent„, setzte er an. „Allerdings bist du damit für deine Mitmenschen nicht so richtig greifbar. Du befindest dich in stetem Wandel, so dass die Menschen gar nicht so sehr an dich heran kommen können.“
Ich musste kurz schlucken. Da ist schon irgendwie was dran und ich weiß auch warum. Aber das Thema mache ich an dieser Stelle nicht wieder auf. Der Punkt ist, dass es elementar für mein weiteres Leben nach der Transition sein könnte, sollte ich jemals eine ernsthafte Beziehung eingehen wollen. You get it?
Bin ich also nicht greifbar?! „Wer ist Julia?„, fragte mein Gegenüber. „Julia, die Reiterin. Julia, die Autorin. Julia, die Köchin. Julia, die Mutter. Julia, die Freundin. Julia, die Tochter…“ Ja, das bin alles ich! Und mir das so klar zu machen, erdet mich ein Stück. Gleichwohl erkenne ich, dass möglicherweise einige Aspekte keinen dauerhaften Bestand haben werden. Eintönigkeit, ihr erinnert euch. Was am Ende bleibt, ist die Frage nach dem Wesenskern. Oder um es ganz furchtbar tiefsinnig auszudrücken: es ist die Frage danach, wer wir eigentlich sind und was zum Geier wir hier eigentlich tun. Der Sinn des Lebens, wenn ihr so wollt. Aber das führt jetzt zu weit, diese Gedanken dürft ihr gerne als Hausaufgabe mitnehmen. 🙂
Zeit des Aushaltens
Um nun aber endlich aufzulösen, weshalb dieser Artikel heißt, wie er heißt, muss ich leider noch einen letzten Handlungsstrang öffnen:
Nach einer ganzen Weile schien das gestrige Gespräch zu einem guten Ende gekommen zu sein. Allerdings schob der Coach noch die Frage nach, ob ich noch Themen hätte. Oooooh, jede Menge, mein Lieber! Versuche mich nicht! 🙂
Eines ploppte spontan in den Raum, als würde es „Hier! Hier! Ich! Ich!“ schreien. Doch ich war mir unsicher, ob es an diese Stelle gehörte. „Wir können hier über alles sprechen, nicht nur Berufliches.„, öffnete er mir die imaginäre Gesprächsthementür und ich schritt zögerlich hindurch. Es ging um so ein „es ist kompliziert“-Ding. Ich bin mir nicht sicher, in welchem Ausmaß ich das hier bereits thematisiert habe, weil ich es eigentlich aus diesem Kontext heraushalten möchte. Insofern will ich auch nicht weiter auf die Details eingehen. Der Punkt ist jedenfalls, dass die betreffende Person und ich im Augenblick relativ wenig Kontakt haben. Nicht, weil wir uns verkracht hätten, eher das Gegenteil ist der Fall und sorgt für allerhand zwischenmenschliche „Herausforderungen“. Für mich habe ich jedenfalls herausgefunden, dass es mir mit etwas Abstand besser geht, weil mich engerer Kontakt einfach brutalstmöglich triggert und ich noch keinen Weg gefunden habe, damit umzugehen. Auch dieser Abstand ist super schmerzhaft, aber er ist das kleinere Übel.
In diesem Kontext sprach der Coach dann von eben zitierter „Zeit des Aushaltens„. „So, wie ich eure Situation verstehe, wird eure Verbindung diese temporäre ‚Trennung‘ tragen. Und vielleicht ist es gerade einfach die Zeit des Aushaltens. Sie hat ihre Themen, du hast deine. Das klingt abgedroschen, aber Zeit heilt tatsächlich die meisten Wunden.“
Diese Aussage empfand ich als tröstlichen Abschluss unseres Gesprächs. Mit einer Zeit des Aushaltens kann ich leben, denke ich. Und das gilt nicht nur in Bezug auf dieses „es ist kompliziert“-Ding, sondern auch diese seltsame Zwischen-den-Stühlen-Zeit kurz vor Ende der Transition. Irgendwie wird sich das schon alles fügen, auch wenn es heute unangenehm wie eine 3-Stunden-Sitzung Bartepilation ist.
Und, ich weiß, ich wiederhole mich, aber es muss einfach nochmal gesagt werden: alles was ich brauche, ist bereits in meinem Leben – vor allem meine allerliebsten Lieblingsmenschen. Und das ist doch eine ziemlich coole Vorstellung, oder?
Alles Liebe und eine fröhliche Maiwoche,
Julia