Achterbahn

Diese Frage stelle ich mir seit einiger Zeit. Was stelle ich eigentlich mit meiner Zeit an, sobald meine Transition irgendwann mal abgeschlossen sein wird? Ein durchaus angstbesetztes Thema.

Tja, was kommt danach? Ganz ohne Übertreibung ist die Transition das größte Projekt meines Lebens und das Ergebnis dessen die Erfüllung meines Lebenstraums. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist ein echt dickes und bedeutendes Ding für mich, diese Transition. Doch wie die Einleitung ja bereits beschreibt, mache ich mir seit einiger Zeit mehr und mehr bewusst, dass diese wilde Reise eines Tages ein Ende haben wird. Nächstes Jahr vielleicht sogar schon.
Letztlich wird es ein simpler Gedanke sein, der mir klar macht: Du bist jetzt mit allem durch. Das war’s. Das Kapitel „Transition“ ist beendet.
Vielleicht wird mir dieser Gedanke kommen, wenn ich im HomeOffice sitze und hinaus ins Grüne schaue. Oder wenn ich mir einen Kaffee mache. Oder Abendessen koche. Oder bei einem Spaziergang. Oder in einem Gespräch mit einer Freundin. Jedenfalls wird dieser Gedanke dann bald meinen Kopf verlassen. Ich werde anfangen, darüber zu sprechen und meinen Liebsten bei Gelegenheit mitzuteilen, dass ich innerlich mit der Transition abgeschlossen haben werde. Und viele werden sagen: „Das war eine bedeutende und bewegte Zeit für dich. Ich bin so stolz auf dich, dass du diesen Weg so mutig gegangen bist.“ Und ich werde auch stolz auf mich sein, das alles geschafft zu haben (bin ich heute schon).

Doch an dieser Stelle blieben meine Gedanken immer hängen. Was würde ich danach machen? Welche Ziele könnte ich danach noch erreichen wollen? Ich meine Ziele, die auch nur ansatzweise solch eine Bedeutung für mich haben werden. Heute sage ich: das ist eigentlich kaum möglich! Die Transition ist in ihrer Bedeutung für mein Leben im Grunde nicht zu toppen. Daher war und ist meine Befürchtung, ab diesem Punkt in ein tiefes Loch zu fallen und die Orientierung zu verlieren, da mir mein Leuchtturm der letzten Jahre plötzlich das Licht ausschalten und in Rente gehen wird. So wie nach einem Marathonlauf. Die Läuferin überschreitet die Ziellinie…die Menge jubelt…ihr Puls rast…die Lunge brennt…die Beine zittern…und dann bricht sie erst einmal zusammen. Der Punkt ist aber: sie steht wieder auf und macht weiter. Liegen bleiben ist keine Option!

Seit einem Chat mit einer Freundin am gestrigen Abend, bin ich zuversichtlich, dass auch ich, wie die Läuferin, wieder in dem Wissen werde aufstehen können, dass noch neue Herausforderungen auf mich warten.

Warum ich das bin? Weil es sich bei unserem Chat um eine Ungleichbehandlung verheirateter Frauen in der Steuergesetzgebung ging und wir darüber nachdachten, eine politische und gesellschaftliche Initiative loszutreten, um diesen Missstand zu beheben. Definitiv ein Projekt.

Hör’s dir an!

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Doch es geht mir dabei gar nicht so sehr um den konkreten Fall. Vielmehr wurde mir daraufhin klar, dass ich die dann frei werdende Energie und Zeit nicht nur für solch spannende Aktivitäten wie die weitere Förderung meiner Karriere, das Treffen von Freundinnen, Schreiben, Kochen, Sport oder Schlafen verwenden kann, sondern tatsächlich auch einen tieferen Sinn für mich darin finden kann, mich gesellschaftlich zu engagieren. LGBTIQ*-Themen liegen da natürlich absolut auf der Hand, aber auch in dem derzeit immer sichtbarer werdenden Spalt zwischen hierarchischem und verbindendem Denken (Stichwort Agilität) sehe ich großes Potenzial, um in unserer Gesellschaft etwas bewegen und dabei auch persönlich wachsen zu können. Wie schrieb dazu so passend heute meine beste Freundin?

Was dich nicht herausfordert, wird dich nicht ändern!

Unbekannter Autor

So ist es. Komfortzone und so.

Nun, wird dadurch nach dem Ende meiner Transition mehr Ruhe in meinem Leben einkehren? Vermutlich nicht. Es geschieht immer irgend etwas und dafür bin ich (meistens) dankbar.
Mehr innere Ruhe wird das Ende der Transition aber mit sich bringen, ja. Und die ist doch eine großartige Voraussetzung, um die Kriegerin des Lichts – oder die Löwin in mir, ganz wie ihr wollt – ihr Werk verrichten zu lassen. „Führung ist dein Thema“, äußerte meine Schwester vor Kurzem und reihte sich damit in eine Anzahl von Menschen ein, die ähnliches über mich sagen. Ich habe nie nach Führung gestrebt, merke aber in meinem Job und durch die Transition, dass ich durch mein Handeln – und da schließe ich diesen Blog ein – von Menschen in die Führungs- oder Vorbildrolle gewählt werde. Das fühlte sich anfangs komisch an, weil damit auch eine gewisse Verantwortung und sogar Einsamkeit einher geht, aber je mehr ich mich damit befasse, umso stimmiger fühlt sich das für mich an. „Servant Leadership“ heißt das im Jargon des agilen Arbeitens. Ich weiß nicht, ob das am Ende meine Bestimmung ist – sofern es so etwas überhaupt gibt. Schauen wir mal, wie sich das alles weiter entwickelt und wohin mich das Leben noch segeln lassen möchte. 

Ja, das klingt alles noch sehr vage. Aber das ist okay! Ich muss (und kann) heute noch nicht wissen, wann die Transition beendet sein wird und wie mein Leben danach genau aussieht. Aber ich habe durch diesen Chat mit meiner Freundin erkannt, dass ich vor dem „Danach“ keine Angst zu haben brauche. Es ist „nur“ die Kunst der Neuausrichtung bei der Frage nach dem Sinn der Existenz. Aber soweit bin ich noch nicht.

Noch bin ich mittendrin in der Transitionsachterbahn…langweilig wird mir jedenfalls nicht. 🙂

PS: Ich hatte heute mal Lust, den Artikel als Audio aufzunehmen und euch zusätzlich zur Verfügung zu stellen. Dabei fiel mir auf, dass ich damit viel besser gewisse Gedankengänge ausdrücken und betonen kann. Das hat Spaß gemacht. 🙂 Lasst mir doch gerne einen Kommentar da, wie euch das gefallen hat.

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