Kind hinter verregneter Scheibe

Wie so oft unter der Dusche, schossen mir auch heute wieder ein paar Gedankenfetzen in den Sinn, die ich unmittelbar aufschreiben musste, denn sie sind für mich ein sehr bedeutsamer Teil meiner Kindheit, wenn auch zwecks Lesbarkeit ein wenig ausgeschmückt. 

Das Mädchen mit dem verschlossenen Herzen

von Julia Kalder, 07/2022

Regen zog schon den ganzen Tag lang über’s Land. Der Himmel war verhangen, dicke graue Wolken schoben sich Minute für Minute in Richtung Südosten. Dicke Tropfen lösten sich von der verzinkten Regenrinne und platschten deutlich hörbar wie ein Metronom auf den frisch verlegten Teakholzboden des Balkons. 

Ein kleiner Junge kniete mit im Schoß gefalteten Händen auf der anderen Seite der Balkontür und schaute den Tropfen beim Fallen zu. Plitsch. Platsch. Plitsch. Platsch. Jedes Mal kurz vor dem Aufprall überkam ihn ein leichtes Frösteln, als er an das bevorstehende Ende dieses schönen Wassertropfens dachte, durch den hindurch er für den Bruchteil einer Sekunde das Licht sich brechen sah, manchmal sogar den Hauch von Regenbogenfarben. Er lächelte kurz. Doch dann trieben seine Gedanken zurück zu den vielen Grautönen des Himmels, die auch die seinen waren. Ihm rannen Tränen über das Gesicht. Das Kitzeln machte ihn Ärgerlich, denn es störte ihn beim Traurigsein. Eine dicke Träne tropfte auf den leicht abgewetzten Teppich, dessen Muster er schon so oft als Straßen, Parkboxen und Gebäude für seine Legoautos verwendet hatte. 

Es fühlte sich alles so falsch an. Schon so oft hatte er hier am Fenster gestanden und auf den Wendehammer hinter dem kleinen Reihenhausgärtchen geschaut, auf dem andere Jungen Fußball oder Rollhockey gespielt hatten. Der Gedanke stieß ihn ab. Beinahe eben so oft hatte seine Mutter ihn aus Sorge um ihn vor die Tür geschickt und aufgefordert, dort mitzuspielen. Doch blieb sie die einzige, die das wollte. Weder er, noch die anderen Jungen wollten, dass er mitspielte. Er war ein Außenseiter, schon immer gewesen. Nie hatte er sich irgendwo so recht zugehörig gefühlt. Die Jungen waren ihm zu wild, ihr Gehabe irgendwie dumm vorgekommen. Viel lieber wäre er bei den Mädchen gewesen, doch die wollten nicht mit ihm spielen, weil er ein Junge war. 

War er das wirklich? Ein dicker Schwall tränen quoll erneut aus seinen Augen. Was war er überhaupt. War er „er“? Erst vor ein paar Wochen hatte er heimlich die Badezimmertür abgeschlossen, sich ausgezogen, vor dem Spiegel betrachtet und das unbändige Verlangen verspürt, sich sein jungenhaftes Genital abzuschneiden. Allein die Angst vor den Schmerzen und den Konsequenzen hatten ihn davon abgehalten. Ein Gedanke wirbelte schon lange immer und immer wieder durch seinen Kopf: er wollte ein Mädchen sein! Er träumte davon. In der Nacht und am Tage.

Jeden Abend hatte er sich voller Hoffnung ins Bett gelegt und zu Gott gebetet, er möge ihn morgen früh als Mädchen erwachen lassen. Nichts geschah, natürlich nicht. Und so schwand auch sein Glaube in Gott von Mal zu Mal mehr. Wie konnte er so grausam sein und ihn dieses Leben leben lassen? 

Langsam wuchs in diesem Kind die Furcht und die Erkenntnis, es sei in seinem Körper auf immer und ewig gefangen. Seine Wünsche seien nur dumme Fantasien und würden irgendwann schon vergehen. Und so begrub es jede Hoffnung auf das richtige Leben tief in seinem Herzen und versteckte sie hinter unzählbaren Mauern. 

Ein Windstoß fuhr durch die große Birke, die im Garten stand und ein besonders dicker Regentropfen platschte gegen die Scheibe. Er riss ihn aus den Gedanken. „Was ist mit dir los?“ hörte er in Gedanken die Frage seiner Mutter, die vor Sorgen beinahe täglich nachbohrte. Doch er konnte es ihr nicht sagen, es war zu beschämend, zu absurd…zu kindisch! Innere Leere erfüllte ihn. Alles, was er empfinden konnte, war Trauer und Hoffnungslosigkeit. Als würde sich der Himmel aus seiner Trauer speisen, verstärkte sich der Regen weiter und hinter der Gartenhecke konnte man einige Leute mit umgeklappten Regenschirmen über die Straße hetzen sehen. Das war ihm alles egal. Niemand verstand ihn, niemand wollte ihn, denn er war ein Alien. Er verstand sich ja nicht einmal selbst und so, wie er jetzt war, wollte er sich selbst auch nicht. 

Laut schniefend ließ er seinen von braunen Haaren bedeckten Kopf gegen die Scheibe sinken. Sie war kühl, kalt beinahe. Die Kühle brachte Bilder in seine Gedanken. Bilder von ihm als Mädchen. Beim Gummi Twist. Beim Himmel & Hölle spielen. Oder im Kinderkaufladen der Nachbarskinder. Bilder von ihm im Badeanzug. Im Schwimmbad, mit anderen Mädchen. Glücklich lachend, so als sei all das das Normalste auf der Welt. Doch das war es nicht. Und würde es niemals sein. Er schluchzte. Er stellte sich vor, wie seine Mutter ihn da finden würde, zusammengekauert am Fenster. Sie würde ihren Sohn sehen, dem sie trotz all ihrer Liebe und Mühe nicht hätte helfen können. Dabei sollte sie dort doch ihre Tochter sehen! Sie, die tief in seinem Herzen eingesperrt worden war und laut rebellierte. 

Die Tränen versiegten langsam, wie auch der Regen. Wut breitete sich in seinem Bauch aus und verschloss das Tor zu seinem Herzen mit einem weiteren dicken Schloss. Sie verstummte. Beinahe. Nur ein leises Wimmern drang noch an die Oberfläche, doch als wild Fäuste auf die neuesten Legokonstruktionen eintrommelten, übertönte das Getöse ihren verzweifelten Hilferuf. 

Konzentriert auf seine Wut auf sich selbst und das Leben ging vieles der sorgsam zusammengesteckten Figuren an diesem Nachmittag zu Bruch. Doch nicht alles fand an dieser Stelle jäh ein Ende. 

Denn der kleine Junge, der eigentlich ein kleines Mädchen war, übersah vom Fenster abgewandt einen kleinen blauen Fleck am Himmel, durch den die Sonne zarte Strahlen auf die Erde schickte.

Und…einen kleinen, zarten Regenbogen…

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