Heute auf den Tag genau liegen 8 Monate Hormontherapie hinter mir – wie die Zeit rast. Viel hat sich seitdem getan – und wenig zugleich.
5. Oktober 2020. Die Reise der medizinischen Transition beginnt. Heute, 8 Monate später, kommt es mir vor, als sei es erst gestern gewesen. Die anfänglichen, vor allem emotionalen, Veränderungen sind ein geliebter Teil von mir geworden und die phasenweise Stimmungsschwankungen sind zum Alltag geworden und wundern mich nicht mehr. Alltag. Ja, so könnte man es in der Tat bezeichnen. Mit allen Vor- und Nachteilen.
Körperliche Entwicklungen
Ich berichtete ja bereits früher, dass die körperlichen Veränderungen durch die Hormone wesentlich länger auf sich warten lassen, als ich es eigentlich gedacht hätte. Das ist auch weiterhin so, mit einer kleinen Ausnahme: seit etwa einer Woche ist insbesondere der Bereich um meine Brustwarzen noch weitaus empfindlicher geworden, so dass es gar weh tut, wenn ich leichten Druck ausübe. In der linken Brust fühle ich seitdem auch einen harten Bereich, rund und länglich, in etwa wie eine langgezogene Kaffeebohne. Nach etwas Recherche über Brustwachstum im Allgemeinen und dem Lesen ähnlicher Berichte in Trans-Foren scheint das durchaus ein normales Phänomen während des Brustwachstums zu sein und wie auf dem folgenden Schaubild zu sehen, handelt es sich wahrscheinlich um wachsende Brustdrüsen (3).
Von Original author: Patrick J. Lynch. Reworked by Morgoth666 to add numbered legend arrows. – Patrick J. Lynch, medical illustrator, CC BY 3.0, Link
Dass Brustwachstum mitunter schmerzhaft sein kann, war mir schon klar, dennoch beobachte ich diese Entwicklung mit gemischten Gefühlen. Einerseits freue ich mich wahnsinnig, dass sich scheinbar endlich etwas tut. Andererseits betrachtet ich es mit leichter Sorge, da generell von erhöhtem Brustkrebsrisiko bei Hormontherapien berichtet wird (das allerdings durch das bei Männern von Natur aus deutlich geringere Risiko nivelliert werden soll).
So oder so ein Fall für meinen Frauenarzt. In diesem Fall lautet meine Devise dann doch: better safe than sorry.
Alltag
Von all dem mal abgesehen war gestern wieder so ein alltäglicher Tag, der dennoch Erwähnung verdient, denn er bot Gelegenheit zur Freude und Niedergeschlagenheit.
Super erfreulich war ein Besuch beim Bäcker, bei dem sich etwa folgendes zutrug:
Ich stand am Tresen und hinter mir wartete eine andere Frau, die offenkundig lieber Teilchen als Brötchen kaufen wollte. Daraufhin vernahm ich seitens des Verkäufers, während er auf mich deutete: „Wenn sich die Dame ein Stück in diese Richtung bewegt, dann können Sie gerne hierher kommen.“ Er hat „die Dame“ zu mir gesagt! 🙂 JUHU! Mein Herz hüpfte ganz doll in dem Moment. Es ist schwer in Worte zu fassen, welche Wohltat es ist, von fremden Menschen richtig gegendert zu werden…
Die Niedergeschlagenheit folgte dann leider am Nachmittag. Mein Vater kam zu Besuch und wir verbrachten gemeinsam mit meinen Töchtern einen schönen Nachmittag. Wir spielten Kartenspiele, beobachteten das Sommergewitter und ließen uns von „Opa“ zu frischer Pizza einladen. Was mich jedoch wiederholt tief traf war der Umgang aller Beteiligten mit meiner Identität. In jedwedem Kontext war ich „er“. Ich wurde durchweg gemisgendert. Zack, wieder ein „ihm“. Ein „er“. Ein „ihn“. Ich habe nicht mitgezählt, aber diese Ausdrucksweise zog sich ohne Ansatz von Selbstkorrektur durch den gesamten Nachmittag. Dass meine Kinder noch nicht an diesem Punkt sind, ist mir klar. Es schmerzt jedes Mal, aber ich kann damit umgehen. Von einer erwachsenen Person hätte ich mir aber doch etwas mehr Respekt gewünscht. Ich bin nunmal kein „Er“. Sogar der deutsche Staat hat das mittlerweile offiziell bestätigt.
Ich unterstelle bei all dem keine Absicht, dafür kenne ich meinen Vater einfach zu gut. Und ich weiß, wie schwer er sich mit der neuen Situation einerseits tut und sich andererseits bemüht, mich „Julia“ zu nennen. Daher ließ ich es auch auf sich bewenden und korrigierte ihn nicht. Hätte ich das tun sollen?! Dennoch muss ich so ehrlich zu mir selbst sein und mir eingestehen, dass mich das schwer trifft. Ein Gefühl, das ebenso schwer vermittelbar ist, wie die oben genannte Freude. Am ehesten ist vielleicht damit vergleichbar, aus Gedankenlosigkeit nicht gesehen und übergangen zu werden. Und hier liegt möglicherweise der Hase im Pfeffer. Mit etwas achtsam oder emphatisch umzugehen bedeutet auch, es wenigstens ansatzweise nachvollziehen zu können und dazu eine gewisse innere Distanz einzunehmen.
Schwierig.
Da fällt mir meine Aufstellung ein, die ich vor einigen Monaten im OpenCircle gemacht habe. Dabei ging es genau um dieses Thema und die Verbindung zu meinem Vater. Ohne hier ins Detail gehen zu wollen, bildete die Aufstellung am Ende genau diese Situation ab, jedoch mit geklärten Motiven hinter den einzelnen Verbindungen und Positionen.
In Bezug darauf ist es definitiv an mir, die Situation in Frieden anzunehmen und nicht gegen Windmühlen zu kämpfen, gegen die ich nicht gewinnen kann. Dennoch spüre ich noch immer ein Spannungsfeld zwischen dem Wunsch nach diesem friedlichen Annehmen und dem innersten Bedürfnis, korrekt benannt zu werden – was ich im Übrigen als mein gutes Recht ansehe.
Und so schwanke ich zwischen dem Eintreten für mich selbst und dem Annehmen von scheinbar unverrückbaren Tatsachen innerhalb der engsten Familie.
Schwierig.