Hat sich meine aufgebrachte Laune seit den letzten Blog-Artikeln beruhigt? Ein wenig. Geht’s mir deswegen besser. Kaum. Daher klammere ich mich heute an zwei, nein drei Lichtblicke.
Ich schlafe im Augenblick schlecht. Kein Wunder bei all dem Mist, der in den vergangenen Tagen passiert ist. Ich versuche damit einigermaßen selbst klar zu kommen, da ich niemandem damit zu sehr in den Ohren liegen möchte (Achtung, böser Glaubenssatz!). Jedenfalls, die Müdigkeit am Tage macht die Situation dann am Ende auch nicht besser und mein Energielevel ist unterirdisch. Möglicherweise auch, weil ich aktuell die Hormongabe von 2x morgens, 1x nachmittags auf 3x morgens umgestellt habe. Das scheint meinem Testosteronspiegel doch arg zuzusetzen, was aber grundsätzlich positiv ist. Aber das nur am Rande.
Jeder neue Tag ist im Augenblick mehr Qual als ein Geschenk, die Woche plätschert dahin und der Blick in den Spiegel, das Hören meiner Stimme, all das widert mich einfach nur noch an. Aber gemischt mit wieder neu aufkeimenden Selbstzweifeln, ob ich überhaupt das Richtige tue. Das kann mir außer mir vermutlich niemand beantworten, doch im Moment fehlt mir der Boden unter den Füßen und meine Emotionen und Gedanken drehen völlig frei. Es scheint, als sei ich vollkommen außer Kontrolle und ich ertappe mich bei dem Wunsch, die Uhr wieder zurück drehen zu wollen.
Einfach den ganzen Kram nicht zu tun. Nicht all die Bürokratie auf mich zu nehmen, nicht jeden Tag darauf zu hoffen, wieder eine neue minimale weibliche Kurve am Körper zu entdecken, nicht den Glauben an mich zu verlieren, wenn es um die Logopädie geht. Ich rede viel im Job, in all den Meetings. Versuche kleine Erkenntnisse aus der Logopädie einzubauen, nur um zu merken, dass es nicht funktioniert. Doch wenn der Feierabend da ist, verstumme ich förmlich. Mir bleibt die Stimme weg. Stimmübungen sind beinahe unmöglich geworden und ich kann diesen Widerstand nicht ignorieren. Doch auch genauso wenig verstehen und ergründen.
Ich weiß nicht, wie es anderen Transpersonen geht, aber für mich ist die Stimme das schlimmste an der ganzen Transition und ein zuverlässiger Faktor, mir den Tag zu versauen.
Atmen. Tief durchatmen. Einfach nur atmen.
Ich wollte doch eigentlich von den Lichtblicken berichten, aber das schien nochmal gesagt werden zu müssen und damit bin ich auch noch lange nicht durch.
Lichtblick 1
Ein Meeting mit einer sehr guten Kollegin / Freundin entwickelte sich zu einem fast einstündigen offenen und sehr persönlichen Gespräch. Um es kurz zu machen: ich kotzte mich über meine aktuelle Lage aus und sie sagte wirklich liebe Dinge, die mich ein Stück weit wieder aufbauten. Unter anderem sprach sie mir großes Lob und Vertrauen in mich als Mensch und in meine Arbeit aus. Ihr Bild von mir war 1.000 Mal besser als meines von mir selbst. Und sie bedauerte sehr (ich im Übrigen auch), dass das gemeinsame, im Großen und Ganzen abgeschlossene Projekt durch eine Kollegin übernommen wurde, um mich zu größeren, komplexeren Projekten zu schicken. So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Letzen Endes vielleicht auch ein Vertrauensbeweis meines Chefs, der jedoch so niemals kommuniziert wurde.
Es tat gut, auch mal eine Bestätigung für die eigene Arbeit zu bekommen, zumal gerade die Arbeit in der IT stets problemorientiert ist. Niemand lobt mal, wenn alles läuft. Es wird immer nur gemeckert, wenn etwas mal nicht läuft. Das zermürbt auf Dauer, weil es die Realität verzerrt. Was nach diesem Gespräch auch bleibt ist die Gewissheit über einen tief verankerten Glaubenssatz, niemals genug und gut zu sein, egal wie sehr ich mich anstrenge.
Und womöglich liegt auch hier ein Teil des Problems, warum es mir während der Transition oft scheiße geht. Weil ich für mich selbst nicht das Gefühl habe, “genug Frau” zu sein. Nicht mal für die anderen, aber für mich. Dabei ist das totaler Unsinn.
Weißt du, Tagebuch. Die Transition ist ein bisschen wie ein End Game in einem Computerspiel. Sie ist der Endgegner. Oder besser gesagt: ich selbst bin der Endgegner. Weil einfach brutal alles auf den Tisch kommt. Negative Glaubenssätze, lebenslang unterdrückte Gefühle und Wünsche, 39 Jahre femininen Defizits. Alles gebündelt auf einen Punkt. Der reinste Urknall. Ich schrieb nicht umsonst irgendwann früher von einer Art Wiedergeburt. Damals im positiven Sinne, heute auch aus anderer Perspektive.
Und dann kommen mir beim End Game wieder Liedzeilen in den Kopf, die ich kürzlich noch hörte:
Aber all das Kopfzerbrechen, die gefährlichen Gefechte
Und Duelle gegen mich zehrten sehr an meinen Kräften
Bis ich mir mit weißen Flaggen nachts den Frieden angeboten hab
Weil ich, wenn ich gewinne, auch am Ende bloß verlor’n hab.
(Julia Engelmann, Grapefruit)
Passiert das gerade? Duelle? Gefechte? Mit mir selbst? Ich glaube schon, ja. Und es zehrt sehr an meinen Kräften. Und ich bin müde deswegen. Vielleicht wird es Zeit, auch die weißen Flaggen auszupacken und Frieden zu schließen. Aber das ist ein Prozess und keine einfache Entscheidung. Denn den Frieden will ich fühlen, nicht nur wissen oder glauben.
Lichtblick 2
Für etwas Ablenkung im Pyjama-HomeOffice-Alltag sorgte heute ein Termin bei meiner künftigen Wegbegleiterin. Einer Kosmetikerin, die Nadelepilationen durchführt. Genauer gesagt sind das keine Nadeln, sondern Sonden, wie ich heute in einer ausführlichen Theorie-Session lernen durfte.
Das Gespräch war super nett und hat mich auf alles vorbereitet, was da kommen wird. Es wurden sogar probeweise einige Barthaare entfernt. Durchaus etwas schmerzhaft, aber gut zu ertragen. Zumindest am Kinn. Die Oberlippe wird dann wohl nochmal ein anderes Kaliber, aber die wird wohl vor der Behandlung auch örtlich etwas betäubt.
180 Stunde – ja, daher der Titel. 180 Stunden schätzte sie als notwendige Behandlungen. Und damit liege ich ziemlich weit oben im Spektrum. Da ich aber einen recht kräftigen Bartwuchs habe, war das zu erwarten. 180 Stunden. Das wird ein paar Jahre dauern, nehme ich an.
Ein kleines Bonbon gab es auch noch oben drauf: sie wird sich dann bei Zeiten auch um die elende Brustbehaarung kümmern, das tägliche Rasieren dürfte dann relativ schnell ein Ende haben. Das wird jedoch per ELOS-Laser gemacht, nicht mit der Epilation.
Auch wenn es schmerzhaft ist, ich freue mich schon auf die Sitzungen und erste sichtbare Erfolge. Doch bis dahin braucht es noch etwas, denn zunächst müssen die 6 Monate HRT verstreichen und die Krankenkasse meinen Antrag bewilligen. Aber das wird schon, da bin ich sicher. Es wird also voraussichtlich im April oder Mai damit losgehen können. Endlich.
Lichtblick 3
Last, but definitely not least freute ich mich sehr über das Angebot meiner Schwester über eine kleine Remote-Skype-Session am Wochenende mit Galilean Healing. Ich habe das noch nie gemacht und bin auch vergleichsweise ahnungslos, was das betrifft, aber Healing kann ich definitiv im Augenblick brauchen. Ob und wie das remote laufen wird, keine Ahnung, aber ich bin sehr gespannt, es auszuprobieren.
Diese Session und auch ein anstehendes Telefonat, auf das ich mich freue, geben mir ein paar Ankerpunkte für die nächsten Tage, an die ich mich klammern kann, selbst wenn alles andere gefühlt den Bach runter geht – wenngleich das objektiv betrachtet Humbug ist. Die Situation mit der Firmenauflösung hat sich zwar nicht gelöst, aber etwas entspannt. Immerhin etwas.
Lichtblick 3 1/2
Und vielleicht noch zum Abschluss etwas. Eigentlich eine Banalität, sonst nicht groß der Rede wert. Aber im Augenblick eine Stütze, um mit mir selbst wieder etwas besser klar zu kommen: ich habe mich heute nach dem Kosmetik-Termin zum Einkaufen aufgerafft, um Zutaten für ein Rezept zu kaufen, das ich mir rausgesucht hatte. Ich tat mir also abends noch etwas Gutes und bekochte mich selbst.
Wie gesagt, das sind alles keine sensationellen News, aber in diesen Phasen helfen sie, nicht abzusaufen.
Im Übrigen, Notiz an mich selbst: durchforste mal alte Blogartikel nach Depri- und Hochphasen und schaue, ob es da ein zeitliches Muster gibt. Ich werde nämlich das Gefühl nicht los, dass diese Depri-Phasen relativ regelmäßig in einem Abstand von etwa einem Monat kommen. Zuletzt Anfang Januar, wenn ich mich recht entsinne. Bedeutet aber auch: es kann in den nächsten Wochen nur besser werden!
Alaaf!