Meine erste Reitstunde – ein Gefühl von angekommen sein

Pferd und Reiterin

Heute habe ich Muskelkater und mein Kopf läuft über von all den gestrigen Eindrücken. Dennoch stellt meine erste Reitstunde einen Meilenstein in meiner Transition dar…

Ihr Lieben,

diese Woche ging alles so schnell in Sachen Reiten, so dass ich noch immer beeindruckt bin, wie einfach sich Dinge bewegen, wenn ich den Fokus darauf lege. Doch spulen wir ein paar Tage zurück…

Es ist Mittwochabend. Ich sitze mit meiner Freundin M. zusammen, mein Papa ist auch spontan vorbei gekommen und zu dritt plauschen wir bei einem Glas Blubberwasser über dies und das und auch über meine Reitambitionen. Ja, ich meine es damit wirklich ernst! Mein Handy klingelt, eine neue eMail trifft ein. Es ist die Reitlehrerin und sie bietet mir einen Platz an der Longe für den morgigen Abend an, statt nur beim Unterricht zuzusehen. “Wollen Sie?“, fragt sie. Ja klar will ich!!! Ich sage zu und freue mich wie ein Schnitzel. Morgen würde ich wieder auf einem Pferderücken sitzen dürfen…

Donnerstagnachmittag. Meine Elektrologistin pikt mir mit einem neuen Thermolysegerät in der Nähe des Kehlkopfes herum und zieht wie jede Woche reichlich Barthaare heraus. Es wird langsam besser und das neue Gerät bereitet mir weniger Schmerzen. Ja, es geht tatsächlich voran. Sie gibt mir ein ganzes Arsenal an Hautpflegeprodukten mit nach Hause, um meine Gesichtshaut langsam wieder aufzubauen. Denn durch die Bartepilation wird sie wieder und wieder stark beansprucht und da meine Haut ohnehin sehr empfindlich ist, braucht sie ein wenig professionelle Zuwendung.
Mit einer gehörigen Portion schlechten Gewissens trage ich mir zurück Daheim mein Tagesmakeup auf, um am Abend dann endlich zur Reitstunde zu fahren. Das mag meine Haut eigentlich gar nicht, aber heute geht’s nicht anders. Sorry, Haut!

Mit einem soliden Zeitpuffer im Rücken werfe ich mich ins Auto und fahre los in Richtung Reitstall. Ich bin nervös. Neue Menschen. Neue Umgebung. Neue Pferde. Wird die Lehrerin nett sein? Wie werden die anderen Menschen auf mich reagieren? Werde ich die alte Schulfreundin meiner Schwester treffen, die mit dieser Reitschule ihren Jugendtraum verwirklicht hat? Ich lenke mich mit Musik ab. Lauter Musik. Denn Musik muss man fühlen und das geht am besten im Auto. Kaum losgefahren, stehe ich im Stau. Die Feierabendmenschen sitzen mit gleichmütigem Blick hinter dem Steuer und werden bereits an der Autobahnausfahrt vom Weiterkommen abgehalten. Mein Puls steigt. Ich ahne Böses und ich hasse nichts mehr als Zeitdruck. Es gibt sehr wenig, was mich aus der Ruhe zu bringen vermag, Zeitdruck triggert mich jedoch sofort. Die Ankunftszeit auf meinem Navi verschiebt sich immer mehr und eine Ende des Staus ist nicht erkennbar. Ich atme tief durch und versuche mich damit abzufinden. Außerdem würde sich mein Stress auf das Pferd übertragen, soviel habe ich bereits gelernt. Also ergebe ich mich in mein Schicksal und quäle mich Meter um Meter vorwärts.

Mit fast 30 Minuten Verspätung holpert mein Auto durch die Schlaglöcher des Feldwegs, der zur gut ausgeschilderten Reitschule führt. Ich suche mir einen Parkplatz auf dem riesigen Gelände, frage mich zu meiner Reitlehrerin durch und komme augenblicklich zur Ruhe. Überall sind Pferde, Katzen, Hunde und Mädchen und Frauen in Reitbekleidung. Ich fühle mich schlagartig zu Hause. “Dann bist du Julia!“, stellt meine Reitlehrerin I. freundlich fest und lässt mich wissen, dass sie selbst auf in Zeitverzug ist…wegen des Straßenverkehrs. Das passt ja hervorragend und ich schaue mir fast 2 Stunden lang eine Gruppenstunde mit 4 Reiterinnen an. Ich mag I. auf Anhieb. Eine Powerfrau mit Humor, die kein Blatt vor den Mund nimmt und mit beiden Beinen im Leben zu stehen scheint. Später am Abend nach der Reitstunde wird sie mir ein großes Kompliment machen und auch mich als Powerfrau beschreiben. Ich weiß nicht genau, woran sie das festmacht, aber sie hat scheinbar etwas in mir gesehen, das durch die Depression eine ganze Weile verschüttet war.

Während ich der Reitstunde zuschaue und später schon beinahe selbstverständlich über den Hof laufe, frage ich mich immer wieder, wie die anderen Frauen und Mädchen mich sehen. Total bescheuert eigentlich, aber so bin ich nun mal. Das sind die tiefsitzenden Selbstzweifel, die ich schon mein ganzes Leben mit mir herum trage. Doch, oh Wunder, es passiert ja gar nichts Schlimmes. Ich ernte keine fragenden Blicke oder ähnliches. I. und alle anderen behandeln mich von der ersten Sekunde an als Frau. Ohne Wenn und Aber. In den zwischenzeitlichen Gesprächen kommt noch nicht einmal meine Transidentität zur Sprache. Es spielt schlicht keine Rolle. Ein Teil von mir schaut sich das Szenario ein wenig verwundert von außen an, während der größere Teil diesen Umstand hart abfeiert. Ich werde einfach so als Frau wahrgenommen. Fertig. Eine von vielen auf diesem Hof. Eine Insel der Weiblichkeit. Außer den Hengsten sind keine männlichen Wesen anwesend und ich fühle mich sauwohl. Eine von vielen…wir erinnern uns: das war von Anfang an mein Ziel in der Transition. Einfach nur eine Frau unter vielen sein. Es scheint, als hätte ich dieses Ziel erreicht. An diesem Ort, wo meine Vergangenheit im Grunde keine Rolle spielt und mich niemand kennt. Ich bin einfach Julia. Eine 42-jährige Mama zweier reitbegeisterter Töchter, die in einem Bürojob arbeitet und nun endlich das Reiten lernen möchte. Es kann so einfach sein. Wow!

Ich stehe auf der Tribüne und schaue den vier Frauen zu, wie sie verschiedene Dinge auf dem Pferderücken üben. Haltung, Sitzen, Schritt, Trab, Galopp. Begleitet werden sie von kernigen, aber liebenswerten Anweisungen von I. Mein Dauergrinsen mag gar nicht mehr verschwinden. Mensch, ist das toll hier. Es ist viel, ja. Die Mädels haben schon echt etwas drauf und sind keine Anfängerinnen mehr. Aber an diesen Punkt werde ich auch noch kommen und darauf freue ich mich.

Nach dem Ende der Stunde begrüßt I. eine weitere Reitanfängerin, die zu einem Longetermin vor mir da ist. Ich darf sie begleiten, sauge alle Erklärungen zum Satteln, Trensen und schließlich zu den Grundlagen auf dem Pferderücken auf wie ein Schwamm. Sie macht das toll und es wirkt wie Magie, dass reine Gewichtsverlagerung, das An- oder Entspannen von Muskeln dieses wundervolle Pony steuern können. Wieder bestätigt sich mein Eindruck, dass Pferde hochgradig sensibel sind und sehr genau wahrnehmen, was wir Menschen tun.
Und somit ist es auch kaum verwunderlich, dass meine Reitlehrerin großen Wert auf das eigene Körpergefühl legt. Gleichgewicht. Achtsamkeit. Innere und äußere Entspannung. Denn all das überträgt sich auf das Pferd. Wir sollen mit den Bewegungen des Pferdes gehen. Und im Sattel entspannen. Vertrauen.

Als ich wenig später im Sattel auf Rio sitzen darf, einem immens großen und reichlich frechen Schecken, wird mir klar, wovon I. die ganze Zeit sprach. Ich habe entgegen meiner anfänglichen Wahrnehmung noch immer Stress und Anspannung der Autofahrt in mir und das überträgt sich auf Rio. Ich drücke unbewusst nach dem Aufsteigen meine Beine an seine Flanken und er wechselt augenblicklich in den Trab. Mein Fehler, aber eine sehr eindrückliche Lehre. Ich atme einfach nur aus, lasse mich in den Sattel sacken und entspanne meine Beine. Sofort verlangsamt mein unruhiger Freund den Gang und wechselt wieder in den Schritt. Wahnsinn! Ganz ohne Zügel, ohne meine Füße in den Steigbügeln. “Das sind STEIGbügel”, sagt I. “Keine Reitbügel.” Das ist ihre Philosophie und sie gefällt mir.
Nach einer kleinen Weile soll ich meine Augen schließen und mich auf die Bewegungen des Pferdes einlassen. Zunächst fühlt sich das etwas unsicher an, zumal mein Gleichgewichtssinn bestenfalls als mittelmäßig zu bezeichnen ist. Doch dann lasse ich mich darauf ein, fühle die Bewegungen unter mir und gehe entsprechend mit. Es ist beinahe wie fliegen! Ganz toll!

Am Schluss attestiert mir I. sogar ein Talent für’s Reiten, was mich außerordentlich stolz macht. Offenbar hat Spirit da einen Nagel auf den Kopf getroffen. Danke, lieber Spirit! Du hast mir die Augen für eine neue Welt geöffnet! Zum Einen zur Welt der Pferde, aber vor allem auch zu mir selbst. Denn Reiten lernen hat am Ende weniger mit dem Pferd selbst zu tun, sondern eher mit uns selbst. Mit der inneren Einstellung. Mit dem Finden von Frieden und Ruhe, Klarheit, Führung, eine spezielle Form der Kommunikation und Gleichgewicht. Im mentalen und körperlichen Sinne. Mein Kopf explodiert, es ist einfach der Wahnsinn, was für eine Lawine das bei mir losgetreten hat und endlich kann ich begreifen, warum viele Mädels so sehr auf Pferde stehen. Und es wundert mich tatsächlich auch nicht, dass es tendenziell eher ein Frauensport ist. Ich denke, vielen Männern fehlt der Zugang dazu. No offense, liebe Herren. 😉

Um aber noch einmal auf das Thema Weiblichkeit und den unbedeutenden Umstand meiner Transidentität zu sprechen zu kommen: wie ich schon sagte, gingen gestern alle wie selbstverständlich mit mir um (warum auch nicht?). I. nannte mich mehrfach “junge Frau” und mein Herz hüpfte. In ihrer liebenswert-robusten Art erklärte sie gewisse Haltungen auf dem Pferd auch mit körperlichen Merkmalen von uns Frauen. Beispielsweise das Ziehen der äußeren Brustwarze zum inneren Ohr des Pferdes, was unweigerlich dazu führt, dass man den Oberkörper dreht und das Pferd damit lenkt. Sie erklärte die Haltung des Beckens und potentiellen Schmerzen an der Vulva, wenn da etwas falsch läuft und stellte recht bildlich dar, wie wenig Spaß Männer in dieser Situation dank ihrer Geschlechtsteile haben würden. Ich grinste in mich hinein. Natürlich konnte sie nicht wissen, wie gut ich diesen potenziellen Schmerz nachvollziehen kann.

Schlussendlich wurde es 23 Uhr, bevor ich heim fuhr. Ich durfte Rio allein in die Box bringen, was dank der Reitwanderung in den Osterferien schon gut klappte. Lediglich beim Abtrensen und Absatteln brauchte ich noch etwas Hilfe. Es gibt da echt viel zu lernen!
Zu meiner Freude war der Hof zu dieser Zeit schon leer und so konnte ich mich noch in Ruhe mit I. unterhalten. Auch über meine Depression und sie bekräftigte meine kürzliche Erfahrung mit Spirit, dass Pferde absolut genial gegen Depressionen helfen. Denn mit diesen Tieren muss man ganz im Moment sein, alles andere spielt keine Rolle. Geist und Körper sind gefordert und danach fühlt man sich wie neugeboren.

Um nun aber langsam zum Ende zu kommen und ein Fazit zu ziehen: Reiten ist mein Ding! Es kam genau zum richtigen Zeitpunkt in mein Leben und fühlt sich wie ein neues Kapitel an. In meiner Freizeitgestaltung, aber vor allem auch in der Transition und meiner persönlichen Entwicklung. Da geht noch einiges…

Alles Liebe,

Julia

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One Thought to “Meine erste Reitstunde – ein Gefühl von angekommen sein”

  1. […] dem letzten Artikel wurde ich gefragt, ob die Transition respektive Hormonersatztherapie (HRT) die persönlichen […]

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