Pferd, Tinker

…liegt nicht nur das Glück dieser Erde, sondern auch eine gehörige Portion Persönlichkeitsentwicklung und ein Schlüssel zu mehr Selbstliebe und Achtsamkeit im Umgang mit dem eigenen Körper. Besonders letzteres ist im Rahmen (m)einer Transition ein brisantes Thema.

Ihr Lieben,

ich möchte heute einige Themen aufgreifen, die sich in den vergangenen Tagen angesammelt haben und deren Vermischung sich anbietet.

Nach dem letzten Artikel wurde ich gefragt, ob die Transition respektive Hormonersatztherapie (HRT) die persönlichen Interessen verändert. Diese Frage kann ich nur glasklar mit Ja!!! beantworten! Selbst heute, mehr als 2 1/2 Jahre nach Beginn der HRT, bemerke ich diese Veränderungen immer mal wieder. Nicht zuletzt durch meine neu gewonnene Liebe zu Pferden. So betrifft dies auch mein Interesse am Kochen, an Mode, Dekoartikeln, anderen Film- und Seriengenres und vielen anderen.
In diesem Zusammenhang kam ich auch erneut mit dem Thema Selbsthass (a.k.a. Genderdysphorie) in Kontakt, das ich insbesondere im ersten Jahr meiner Transition zeitweise sehr intensiv verspürte. Die eine oder der andere mag sich vielleicht erinnern. Mittlerweile hat sich das glücklicherweise weitgehend gelegt und ich denke, mit Abschluss der Brust-OP im Laufe dieses Jahres wird das noch besser werden.

Warum ich das an dieser Stelle aufgreifen möchte, hat jedoch noch einen weiteren Hintergrund.
Heute Vormittag hatte ich das Vergnügen, meine zweite Reitstunde absolvieren zu dürfen.

Mal am Rande bemerkt, ist Reiten vor der Arbeit genau das Richtige, um in den Tag zu starten. 😉

Wie schon letztes Mal, ging es auch heute wieder um das Loslassen, um Gleichgewicht und Körpergefühl – jedoch noch ausgeprägter als letztes Mal. Heute fiel der Groschen, wie ich meinem vierbeinigen Freund Rio nur durch Gewichtsverlagerung, Körperspannung, Atmung und sanfte Beinarbeit mitteilen kann, wenn ich in den Trab, Galopp oder zurück in den Schritt wechseln möchte. Es sind nur Nuancen in der Körperhaltung, aber sie bewirken Wunder! Wie meine Reitlehrerin I. heute sagte: „Du hast das Gaspedal gefunden.“ Oh yeah, das habe ich und es fühlte sich nach einem Heureka-Moment an. 😀

Das an sich feiere ich schon hart, hat aber nicht wirklich etwas mit der Transition und diesem Blog zu tun. Daher versuche ich mal langsam, den Bogen zu schlagen. Und dieser Bogen sind der inflationär genutzte Begriff der Achtsamkeit und der bewusste Umgang mit dem Pferd und dem eigenen Körper – das Leben im Augenblick. Alles andere wird unwichtig – ich glaube, das hatte ich im letzten Artikel schon beschrieben. Die Verbindung zu meiner Transition stellt genau dieser Umgang dar.
Immer wieder höre ich, wie unterschiedlich Frauen und Männer typischerweise mit ihren Körpern umgehen (Ausnahmen bestätigen die Regel) und ich spreche in diesem Punkt auch durchaus über mich selbst. Vor meiner Transition war mir mein Körper weitgehend egal, ich lehnte ihn sogar zeitweise ab (siehe Selbsthass und Genderdysphorie). Früher war mein Körper eine Maschine, die zu funktionieren hatte und die man problemlos dauerhaft unter Volllast laufen lässt. Dumme Idee, ich weiß. Das ist allen Verlautbarungen nach die eher typisch männliche Denkweise. Heute sehe ich das komplett anders, eben aus der eher typisch weiblichen Perspektive. Stück für Stück wird mein Körper zu meinem Tempel, der Fürsorge braucht und verdient hat. Denn er war und ist immer für mich da und verdient es, wertgeschätzt und gepflegt zu werden. Dann schenkt er Wohlbefinden, Gesundheit und viel Freude.
Genau das wurde mir im Laufe der Transition immer bewusster und erfuhr durch die intensive Körpererfahrung beim Reiten einen neuen Schub. Es befeuerte sogar meine Motivation, ein paar Kilo abzunehmen, damit mein lieber Rio nicht so schwer an mir zu tragen hat. Nicht, dass ich übergewichtig wäre, aber ein zierliches Pony hätte dennoch nicht besonders viel Freude an mir. Soll heißen: Rio – oder Pferde im Allgemeinen – lassen ganz neue Saiten bei mir erklingen. Zwar bezieht sich speziell diese Motivation im Augenblick eher darauf, dem Pferd einen Gefallen zu tun, aber letztlich profitiere ich davon natürlich auch in erheblichem Maße – spätestens bei jedem Blick in den Spiegel. „Hey, Baby! Du siehst heute wieder verdammt gut aus! :-*

Um nochmal auf die Ausgangsfrage zu sprechen zu kommen: verändern Hormone die eigenen Interessen?
Klar! Und ich möchte ergänzen: es verändert auch die persönlichen Prioritäten. Also das, was im Leben wichtig ist.

Wenn ich mal 3 bis 4 Jahre zurück blicke, lag meine Priorität ganz klar bei der Arbeit. Damals, im Projektmanagement, verausgabte ich mich bis zum Burnout (siehe Maschine, die zu funktioniere hat). Ein klassischer Fehler auch von uns Hochsensiblen. Dann kam die Transition und alles veränderte sich. Ich stellte diese Priorität immer mehr in Frage. Den Sinn, das Miteinander, meinen eigenen Blick auf die Welt. Die Transition wurde zu meiner Priorität 1 und behielt sie auch für lange Zeit.
Doch so langsam merke ich, wie andere Dinge in den Vordergrund treten. Die Transition ist noch immer wichtig (Bartepilation, Brust-OP), doch da ihr Ende langsam naht, teilt sie sich ohne großes Trara den Spitzenplatz mit anderen Themen des Lebens. Guess what?! Reiten, zum Beispiel. Gesundheit im Allgemeinen. Freundschaften. Sport. Sprich, der ausschließliche und zugegebenermaßen bisweilen egozentrische Fokus auf transitionsbezogene Themen weicht mehr und mehr einem breiten Spektrum von „Dingen“. Es ist ein wenig wie ein schnell strömender Fluss, der in ein breites Delta mündet und gemächlich ins Meer fließt. Das Meer des Lebens, sozusagen. Irgendwie kommt alles etwas zur Ruhe, obgleich die letzten Monate mitsamt der Depression sich nicht wie das Meer des Lebens anfühlten. Eher das Gegenteil war der Fall.
Aber sie haben mir etwas gezeigt. Nämlich, dass das Thema Achtsamkeit und Selbstfürsorge wichtiger sind denn je. In einem Gespräch heute beschrieb ich es mit „einen Gang zurück schalten„. Ich kann nicht sagen, warum es ausgerechnet jetzt passiert und was genau die Ursache ist. Die psychische Belastung durch die Transition? Die OP? Die Hormone? Mein Alter? Oder alles zusammen? Keine Ahnung (und davon jede Menge). Letztlich spielt das Warum aber auch keine Rolle.

Wichtiger sind mir die Erkenntnisse und Erfahrungen, die ich seit dem zündenden Funken, den Spirit mir schenkte, hatte und habe. Ich folge wieder meinem Bauchgefühl und meinem Herzen. Das Reiten fühlt sich daher wie eine Art Selbstliebe an, denn ich lerne etwas über mich und entwickle eine Bindung zu den Tieren. Es schärft meine Sinne. Das körperliche Gleichgewicht auf dem Pferderücken färbt Schritt für Schritt auf die Seele ab. Inwieweit dieser Effekt dauerhaft ist, kann ich natürlich nicht sagen, aber für den Moment ist es der place-to-be. Mein Seelenort. Mit meinen Seelentieren. Heute hatte ich die Gelegenheit, ein wenig durch einen Stall zu streifen und die einzelnen Pferde zu begrüßen. Und obgleich ich das vorher schon wusste, wurde mir dabei noch einmal bewusst, welch unterschiedlichen Charaktere sie alle haben. Gleichzeitig merkte ich auch, wie neugierig sie sind, wenn ich ihnen offen, ruhig und freundlich entgegentrete. It’s pure, it’s real!

In Punkto Rio und Persönlichkeitsentwicklung sei noch erwähnt, dass er sehr klare Führung verlangt – das Thema hatten wir hier auch schon bei Spirit. Ansonsten macht er, was er will. Besonders beim Auftrensen und Satteln. Es geht also für mich nicht nur um Achtsamkeit und Gleichgewicht, sondern auch um Führung und Klarheit – ziemlich eindrückliche und intensive Lektionen, wenn ihr mich fragt. Jede Minute auf dem Pferdehof fordert meine Präsenz und ich beginne  zu lernen, meinen hochsensiblen Sinnen zu vertrauen und alle anderen Einflüsse ausblenden – im Hier und Jetzt sein. Denn tue ich das nicht, bekomme ich das augenblicklich gespiegelt: vorhin hätte Rio sich beinahe auf meinen Fuß gestellt, weil ich beim Führen für einen Moment mit den Gedanken wo anders war…

Ach, ihr Lieben, nun ist dieser Artikel doch pferdelastiger geworden, als ich es eigentlich geplant hatte. Ich bitte um Verzeihung bei allen, die sich weniger für Pferde und mehr für die Transition erwärmen können. Ich bitte um ein wenig Nachsicht. 😉 Sobald meine Brust-OP näher rückt, wird es auch wieder mehr Content zu diesem Thema geben. Solange lade ich euch dazu ein, meine tierische Selbstreflexion über euch ergehen zu lassen. 😉

Achtsame Grüße,

Eure Julia

PS: Noch ein kleiner Nachtrag in eigener Sache. Wie ich bereits vor einigen Wochen schrieb, erhielt ich den tollen Gedankenanstoß, das „Becoming“ im Namen des Blogs durch „Being“ zu ersetzen. Mit diesem Gedanken gehe ich seither schwanger und denke, dass der Zeitpunkt langsam aber sicher näher rückt, diesen Schritt zu gehen. Denn spätestens seit meiner „Dann bist du Julia!“-Erfahrung bei meiner ersten Reitstunde (ich berichtete), fühlt es sich tatsächlich stimmig an, das „Werden“ in Rente zu schicken und einfach nur zur „sein“, Julia sein. Ob es genau dieser Name werden wird, hängt im Wesentlichen von der Verfügbarkeit freier Accounts bei Instagram, YouTube und Konsorten ab. Vorstellbar wäre auch etwas wie „The Life Of Julia“ oder so. Stay tuned…

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