Heute früh ließ ich nebenher das Radio laufen. Eine Programmankündigung machte mich hellhörig: ein gewisser Norman Wolf habe ein Buch über Mobbing geschrieben und sei zu Schulzeiten selbst betroffen gewesen. Da klingelten gleich alle Glocken bei mir. Das schrie förmlich nach Vergangenheitsbewältigung! 

Also hörte ich mir das Interview mit Norman an. Nach nur einer Minute kaufte ich ohne lange nachzudenken sein Buch, dieser Mensch erzählte da meine Geschichte. Fast jeder Satz seiner Beschreibungen schleuderte mich zurück in die Schulzeit, in der ich täglich durch die Hölle ging. 10 Jahre lang. Nach nur zwei Minuten saß ich tränenüberströmt vor dem Radio und hätte mich am liebsten sofort für den Rest des Tages krank gemeldet. Dieser Beitrag riss ganz offenkundig alte Wunden auf, von denen ich glaube, sie einigermaßen im Griff zu haben. Die lebhaften Beschreibungen abscheulicher Abwertung, Übergriffigkeiten und Ausgrenzung bewiesen das Gegenteil.

Meine Mobbing-Historie gewann ja vor dem Hintergrund meiner Transition ohnehin nochmal eine andere Qualität und machte mir vieles deutlicher. Allerdings nicht besser. In seinem Buch schreibt Norman, dass es im Prinzip jede*n treffen kann, selbst minimalste Abweichungen von “der Norm” (was auch immer das sein mag) können jemanden als Mobbingopfer brandmarken, was oft eine Abwärtsspirale bis hin zu Selbsttötungsvorhaben haben kann. Nun war ich schon immer vergleichsweise sensibel, schüchtern, zurückhaltend, ruhig. Meine Empathie wurde mir zum Verhängnis. Ich interessierte mich für Dinge, die andere als uncool erachteten. Hörte andere Musik. Trug keine Markenklamotten. War unsportlich. Und, was die Täter damals vielleicht unterschwellig auch irgendwie merkten: ich war kein Junge und allein deswegen per se anders. Wenn schon ein einziges dieser Kriterien ausreicht, um Mobbingopfer zu werden, verwundert es mich kaum, dass ich das perfekte Ziel war, um das Selbstwertgefühl der Täter zu erhöhen, indem sie mich niedermachten. Das kann natürlich niemals eine Entschuldigung für die seelische und körperliche Gewalt sein, die ich erfahren habe. “Weil du du bist”, führt das Buch als Begründung an, warum Menschen gemobbt werden. Einfach, weil sie sind wer sie sind. Solche Aussagen lösen in mir blankes Entsetzen und Hass den Tätern gegenüber aus…

Eine Passage recht zu Anfang des Buches trieb mir später wiederholt Tränen in die Augen:

Das Opfer kann sich nicht mehr selbst helfen.
Es muss Hilfe von außen erfolgen, um die Situation zu beenden.

Es muss Hilfe von außen erfolgen!
All das war also gar nicht meine Schuld!
Ich hatte überhaupt keine Chance, aus der Nummer ohne Hilfe raus zu kommen!

Dabei habe ich  mir genau das sehr lange Zeit selbst vorgeworfen, denn mir wurde immer gesagt, ich solle die Täter doch einfach nur ignorieren, sie würden schon allein aufhören. Oder ich möge mich doch “einfach” mal wehren. Was bei körperlicher wie zahlenmäßiger Unterlegenheit blanker Unsinn ist. Kurz: die Verantwortung für das Mobbing läge bei mir! Welche fatale Fehleinschätzung!

Eines wurde mir im Moment des Lesens klar:

Ich wurde damals komplett alleine gelassen!

So krass das klingen mag, aber ernst zu nehmende Hilfe gab es nicht.
Niemand konnte meine Not in seiner ganzen Tragweite hinreichend verstehen, um wirklich etwas zu verändern. Oder betreffende Personen waren schlicht selbst hilflos.
Das heißt nicht, dass es meinem Umfeld egal gewesen wäre, ganz im Gegenteil! No offence!
Dennoch muss ich leider erkennen, dass die unternommenen Schritte im Vergleich zum angerichteten Schaden in keiner Weise verhältnismäßig waren. Norman beschrieb das im Interview sehr anschaulich:

Wenn jemand überfallen werde, rufe man auch direkt die Polizei, anstatt dem Opfer nahezulegen, den Angreifer einfach zu ignorieren.
Mobbing ist aggressives und gewalttätiges Verhalten, das zwar soziologisch erklärbar, aber nicht entschuldbar ist!

All diese vielen kleinen und großen Erlebnisse, auf die ich jetzt nicht näher eingehen möchte, führten auf Dauer zu Selbstabwertung, gebrochenem Selbstwertgefühl und der tiefen Überzeugung, in meiner gesamten Existenz als Lebewesen falsch, wertlos und unerwünscht zu sein. Diese Glaubenssätze treiben bis heute ihr Unwesen, selbst wenn ich sie und ihre Toxizität mittlerweile einigermaßen zielsicher erkennen und benennen kann. Sie äußern sich in vielen Dingen des Alltags. Ich traue meiner eigenen Leistung nicht. Bin hochgradig selbstkritisch (siehe ältere Beiträge zum Thema Logopädie), misstraue Menschen, die mir Komplimente machen (“Das sagst du doch nur so…”). Alles in allem ein toxischer Sumpf, der heute übel riechend eine ziemlich deftige Fontäne Mist auf mich herabregnen ließ.

Nichtsdestotrotz bin ich von Herzen dankbar für diesen Radiobeitrag und das Buch. Beide haben mir gezeigt, dass ich mit diesem Leid keinesfalls alleine bin. So, wie ich auch in meiner Transidentität nicht alleine bin.
Und vielleicht kann mein Jugend-Ich etwas von meinem Transition-Ich lernen:

Dass es dort draußen Gruppen anderer Betroffener gibt, in denen sich unsere Wunden gemeinsam heilen lassen.
Das Buch ist ein erster Schritt und der Eintritt in ein neues Kapitel der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit, die mir die Transition ja so furchtbar gerne vor die Füße wirft.

Liebes Jugend-Ich, ich bin für dich da!

Girl, we got this!

PS: Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle noch das Buch verlinkt:

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