„Wann ist diese Hölle endlich vorbei“, denke ich, fahre mit den Händen durch’s abgeschminkte, von Bartstoppeln übersäte Gesicht. Es fühlt sich vertraut an und dennoch widert es mich an. Ich fahre mir durch die Haare, die Geheimratsecken machen mich schmerzlich darauf aufmerksam, wie spät ich erst zu mir selbst gefunden habe. Ich hatte schon bessere Tage, liebes Tagebuch.

Tja. So schnell kann es gehen, nicht wahr? Blättere ich durch meine Blogeinträge der vergangenen Wochen ging es mir für diese Zeit echt gut. Ich schaue mir nochmal mein aktuelles YouTube-Video an. Dort lache ich, strahle positive Energie aus.

Am Ende dieses langen Tages ist davon jedoch nur wenig zu erkennen. Eine Dysphorie-Welle hat mich heute eiskalt und unvorbereitet erwischt. So heftig, dass ich mich tagsüber selbst mit MakeUp kaum ertragen konnte. Zu sehr schimmert der Bart hindurch, zu markant die Gesichtszüge und zu zerstört meine Stimme. Nicht einmal das Lob zu meinem neuen Video, nicht einmal ein „du siehst gut aus“ von einer Freundin vermag es, diese eklig klebrige Dysphorie von mir abzuspülen.

Dabei hatte ich ein entspanntes Wochenende mit Zeit für mich. Und Zeit mit tollen Menschen auf einem digitalen Barcamp. Das Wochenende ließ mich den Stress der Vorwoche vergessen. Die hitzige Diskussion in unserem Team, in dem ich knallhart meine Meinung zu schon lange anhaltenden und meines Erachtens systematischen Missständen vertrat. Und im Grunde bin ich zutiefst stolz darauf, dieses Standing für mich gefunden zu haben.

Doch nach dem Aufstehen heute früh überkam mich Angst vor der eigenen Courage. War ich vielleicht zu weit gegangen? Oder ist das genau die Julia, die die Welt schon immer hätte sehen sollen? Eine starke Frau, die für ihre Meinung und Rechte eintritt und sich nichts gefallen lässt? Ich vermag darauf gerade keine Antwort zu geben. Der Zweifel war jedoch gesät und so setzte ich mich nur mit Widerwillen an den Laptop, den ich aufgrund überanstrengter Augen wieder mit einem großen Monitor verbunden hatte.

Der Tag zog sich wie Kaugummi, war objektiv betrachtet aber recht erfolgreich. Doch bei jedem Blick in den Spiegel klatschte mir meine innere Kritikerin eine fette Ohrfeige ins Gesicht. „Deine Haare sehen ja heute fürchterlich aus! Was hast du denn damit gemacht?! Hast du deine ultra teure Perücke jetzt etwa schon zerstört?! Deine echten Haare kannst du nie und nimmer offen tragen! Die sind eine Katastrophe, schau mal, wie groß die Geheimratsecken schon sind!!!“ *klatsch* „Und hier! Bartschatten! WTF?! Und hier hast du dich auch schon wieder geschnitten, da muss noch mehr MakeUp drauf!“ *klatsch* „Ooooh, meine Liebe! Deine Hände und Arme haben dir aber auch schon besser gefallen. Hast du nicht gestern erst mit dem Epiliergerät alles entfernt? Das wächst ja wie Unkraut! Wann hört das endlich auf?!“ *klatsch*

Meinen Feierabend verbrachte ich allein. Kein OpenCircle wie sonst. Ich wollte allein sein. Kompensieren. Also bestellte ich Pizza. Lauwarm. Mies gewürzt. Aber irgendwie befriedigend. Einen Salat für’s Gewissen. Und einen Pudding später hinterher, für die Seele. Einen Pudding, den mir ein neuer Fahrer meines Food-Lieferanten an seinem ersten Arbeitstag sichtlich abgehetzt zusammen mit meinem Wocheneinkauf vor die Tür gestellt hatte und zwei Sätze mit mir wechselte. Der arme tat mir leid. Doch mehr tat ich mir selber leid, weil ich verzweifelt versuchte, meine Stimme ansatzweise weiblich klingen zu lassen. Möglicherweise gelang es mir. Denn trotz mieser Frisur und Ablehnung gegen meinen Körper behandelte mich der junge Mann…vollkommen normal. Kein Stutzen. Keine Irritation, wie ich sie manchmal erfahre. Wenn auch selten. So lange ich nicht spreche jedenfalls.

Der Pudding war zu viel. Ich hatte mich überfressen. Überkompensiert. Aber egal. Manchmal darf das sein.

Im WDR spekuliert man über eine Verlängerung des Lockdowns. Schulen bleiben offen. Geschäfte gehen pleite. Eine Farce sonder gleichen. Agilität täte der Krise gut, da bin ich mir sicher. Aber im Grunde tangiert mich das alles nicht wirklich. Ich sitze in einem Elfenbeinturm. Unsere Diskussionen im Team sind Klagen auf hohem Niveau verglichen mit den Menschen, die um ihre Existenz bangen. Und dennoch sind sie berechtigt und alles andere als banal. Ich fühle mich „detached“, abgetrennt. Corona hat mich von Anfang an nicht ernsthaft geschockt. Für mich war und ist es in vielen Bereichen ein Segen. Darf man sowas sagen, wenn Menschen daran sterben? Und es scheint ein Katalysator zu sein. Ein Katalysator für den Wandel. Und das feiere ich. Gleichsam wie ich die Verstorbenen, die wirtschaftlich Bedrohten, die psychisch Belasteten beweine. Corona bedeutet Ambivalenz. Es ist ein Scheideweg.

An einem Scheideweg stand ich auch. Im Juni vergangenen Jahres. Mein Leben nahm eine harte Wendung. Ich bereue nichts davon!

Dennoch stehe ich hier vor dem Spiegel, dessen vereinzelte Wasserflecken vom Tage das Bild trüben wie unaufhaltsam nachwachsende Härchen auf dem Handrücken. Sie gehören dort nicht hin! Sie sind Schmutz! Werden immer mehr, wenn man sie nicht mühsam beseitigt! Verschleiern das eigene Ich irgendwann vollständig, wenn man nur allzu nachlässig wird.

Ich denke: „Wann ist diese Hölle endlich vorbei?“

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