Aktuell sehen meine Tage eher eintönig aus. Aufstehen, vor den Laptop setzen, den Tag in Meetings verbringen, abends “Jane The Virgin” auf Netflix suchten und danach schlafen (ja, man sagte mir schon, Hormone würden auch die Interessen verändern…nun schaue ich also kitschige Telenovelas…aber damit bin ich total fine und ich liebe es! :-D). Dank der aktuellen Corona-Beschränkungen fallen physische Kontakte zu anderen Menschlingen meist ins Wasser. Doch vergangenes Wochenende brach sich ein Gedanke Bahn, straight durch den Trübsinn der digitalen Zerstreuung: wie wäre mein Leben eigentlich verlaufen, wäre ich direkt im richtigen biologischen Geschlecht geboren worden?!

Um ehrlich zu sein, eine wirkliche Antwort auf diese Frage habe ich noch nicht gefunden, da ich wirklich, wirklich aktiv darüber erst letzte Nacht nachdachte. Und zwar so lange, so dass ich am heutigen Montagmorgen direkt meinen Wecker überhörte und verschlief. Dank HomeOffice kann ich aber direkt vom Bett vor den Laptop fallen. Unfrisiert, ungeschminkt und mit vermeintlichen Ringen unter den Augen. So what?!

Doch der Gedanke lässt mich nicht los und es reizt mich, darüber eine kleine Geschichte zu schreiben. In Gedanken ging ich mitten in der Nacht Stationen meines Lebens durch und fragte mich, wie sie verlaufen wären, wäre ich ein Mädchen gewesen. Beginnend mit Kleinigkeiten wie der Babykleidung. Sie wäre vermutlich weniger blau und stereotyp jungenhaft gewesen. Ich hätte keine Legosteine zu Weihnachten geschenkt bekommen, vielleicht eher Puppen. Einen Puppenkinderwagen hatte ich tatsächlich, darin waren allerdings eher meine Teddys unterwegs.
Im Kindergarten hätte ich neben meinen damaligen Freundinnen Claudia und Christiane vielleicht noch weitere Freundinnen gehabt. Mit den obligatorischen Matchbox Autos spielte ich damals schon nicht so sehr wie andere Jungs. Stofftiere waren eher meins.

Der größte Unterschied wäre aber vermutlich die Schule gewesen. Als Mädchen wäre ich direkt in der richtigen sozialen Gruppe gelandet und hätte mich nicht gegen Jungen durchsetzen müssen (was im Übrigen kläglich scheiterte und in massivem Mobbing gegen mich mündete). Vielleicht hätte ich mit den anderen Mädchen einfach Gummi Twist oder Himmel und Hölle spielen können. Ich wäre im Schönschreibkurs kein Außenseiter gewesen. Genauso wenig wie im Schulchor. Ich wäre einfach eine von vielen gewesen – nicht immer ein wünschenswerter Zustand, in diesem Fall aber schon. Meine Freundinnen hätten vielleicht mit viel Freude in mein Poesiealbum geschrieben. Stattdessen blieb es zu 2/3 leer und schoss mich sogar weiter ins soziale Abseits, da Jungs in der Regel keine Poesiealben hatten.

Im Schulsport wäre ich vielleicht nicht zum Gespött der ganzen Klasse geworden, da meine sportlichen Leistungen in keiner Weise mit denen anderer Jungen vergleichbar waren. Stattdessen hätte ich mit den anderen Mädels vielleicht zum Ballett gehen können. Oder zum Reiten. Oder was auch immer. Mutmaßlich wäre ich darin jedenfalls besser gewesen, als in meinen kläglichen Versuchen beim Judo, Tischtennis und Volleyball zusammen.

Kurzum: ich wäre insgesamt nicht dem Mobbing ausgesetzt gewesen, wie ich es leider tatsächlich war. Mein Selbstbewusstsein hätte sich in der Folge ganz anders entwickeln können. In der Pubertät hätte ich für coole Jungs geschwärmt und mich auf Partys einladen lassen. Ich wäre vorher mit meiner besten Freundin shoppen gegangen und hätte mich so richtig chic gemacht, um dem einen Typen zu imponieren. Und wer weiß? Vielleicht wäre eine erste Romanze draus geworden?!

Zu meiner Konfirmation hätte ich sicherlich keine komische rote Jacke getragen, weil ich damals keinen Anzug fand, der mir passte oder mir gefiel. Randnotiz: ich hasse Anzüge schon mein ganzes Leben. An mir selbst, nicht generell. Nein, ich wäre in einem schönen Kleid dort erschienen! Genauso wie zu meinem Abiball. Hochgesteckte Haare, ein dunkelrotes Abendkleid und an meiner Seite mein Freund, der mich nach dem offiziellen Teil zum Tanz aufforderte und beim erstbesten Kuschelsong innig küsste…hach…

Im Gegensatz zum realen Leben hätte nicht ich, sondern er danach zur Bundeswehr gemusst. Für mich machte dieser Umstand ihn noch stärker und ich fühlte mich dadurch noch besser beschützt. Mein Held! Doch dann lebten wir uns auseinander, denn ich begann ein Psychologiestudium. Oder Biologie. Nix mit Informatik. Daraus wurde dann eine Fernbeziehung, die nicht lange hielt. Die Tränen wären geflossen, doch meine Mädels wären für mich da gewesen. Pyjama Party oder so. Klingt furchtbar kitschig und klischeehaft, ich weiß. Doch manchmal wünsche ich mir genau das…

Naja. Und irgendwann, nach der einen oder anderen Beziehung und Affäre, hätte ich dann IHN gefunden. Meinen Traummann. Und so hätten wir geheiratet. Ich…ganz in weiß. Auf seinen Armen über die Schwelle. Ja, das hätte mir schon gefallen. Ich hätte womöglich die Erfahrung machen dürfen, schwanger zu sein und Kinder auf die Welt zu bringen…ein Wunsch, der mit in den vergangenen Tagen tatsächlich einige Male in den Sinn kam.

Ja, diese Gedanken sind alle sehr idealisiert und zum Teil überspitzt dargestellt. Kein Leben verläuft ohne dunkle Zeiten, das ist mir klar.
Doch ich bin davon überzeugt, dass mein Leben insgesamt positiver und glücklicher verlaufen wäre als Mädchen.

Was aber nicht heißen soll, dass ich mein jetziges Leben verteufle. Wäre es nicht so gelaufen, hätte ich meine wundervollen Töchter nicht. Und vieles andere auch nicht. Meine Freund/innen. Sogar die wunderbaren Menschen, die ich durch meine Transition bisher kennenlernen durfte. Dinge, die ich um nichts in der Welt missen möchte.

Dennoch kamen mir beim Schreiben der obigen Zeilen dann und wann die Tränen, denn ich werde das Gefühl nicht los, vieles in meinem Leben unwiederbringlich verpasst zu haben…

“Hätte, hätte, Fahrradkette.” Ja, so ist es nun einmal.

Aber ein bisschen träumen wird ja wohl noch erlaubt sein.

Und wenn ich mir meine Zeilen nochmal durchlese, habe ich wohl doch so einiges zu betrauern…ein ganzes Leben.
Zwar habe ich ein anderes leben dürfen, dennoch bleibt der bittere Beigeschmack, um mein eigentliches Leben betrogen worden zu sein…

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