Einen fröhlichen Nikolaustag wünsche ich Euch, Ihr Lieben! Bunt und wandelbar wie diese Welt nun einmal ist, habe ich mich heute spontan dazu entschieden, den 3. Teil der Jahresreflexion auf morgen zu verschieben. Stattdessen dürft Ihr Euch zum heutigen Nikolaus auf eine kleine Weihnachtsgeschichte freuen.
Ihr Lieben,
zum heutigen Nikolaus schenke ich Euch eine Kurzgeschichte, die ich vor etlichen Jahren schrieb. Damals auf Englisch, heute exklusiv für Euch auf Deutsch.
Bitte seht mir die manchmal doch etwas holprigen Übersetzungen nach. Bei der Arbeit an diesem Artikel fiel mir auf, dass ich die Geschichte auf Deutsch eigentlich gänzlich neu schreiben müsste. Bei Zeiten… 😉
Dennoch, viel Freude beim Lesen!
A fairy tale about gravity, oder: Die märchenhafte Geschichte der Anziehungskraft
Kapitel 1
Es war einmal ein ganz normaler Tag für unsere Mutter Sonne. Sie strahlte mit aller Kraft, wie Millionen von Jahren zuvor. Doch heute war etwas anders: ein kleiner, unscheinbarer Sonnenstrahl erregte ihre Aufmerksamkeit für den Bruchteil einer Sekunde. Für diesen Sonnenstrahl, wie es beinahe unendlich viele gab, hatte das Schicksal eigentlich vorgesehen, dass er die kalten Ebenen des Saturn besuchen sollte. Doch seit er im glühend heißen Kern der Sonne geboren worden war, träumte er davon, die Erde zu sehen. Diesen großen blauen Planeten voller Wunder.
In einem von der Sonne unbeobachteten Moment stahl sich der kleine Sonnenstrahl davon und flog davon. Ziel: das blaue Paradies. Er flog durch den kalten Weltraum, vorbei an den eisigen Gefilden des Merkurs und dem höllischen Himmel der Venus. Es begann ihn dennoch etwas zu frösteln, so alleine im weiten All. Doch dann sah er ihn. Diesen blauen Ball, der Quell des Lebens, der immer näher kam. Dem er immer näher kam. Als der kleine Sonnenstrahl die Erde erreichte, flog er zunächst an seltsamen Metallgebilden vorbei, die umherflogen und scheinbar diese Wesen namens Menschen von A nach B brachten. Belustigt rauschte er an ihnen vorbei, fühlte tiefe Dankbarkeit dafür, all diese Wunder bald sehen zu dürfen und prallte schließlich ungebremst auf eine dunkle, schwere Regenwolke. Ein wenig benommen wühlte er sich durch die Wolke und sprang schließlich hinab auf die Erde.
Kapitel 2
Ein kleiner Junge lag im nassen Gras eines verlassenen Parks und öffnete langsam die Augen. Ein hell funkelnder Sonnenstrahl blendete ihn und so setzte er sich auf, um sich umzusehen. Er war allein und pitschnass vom Regen, der vor Kurzem eingesetzt hatte. Doch das störte ihn nicht. Er blickte erneut zum Himmel empor und suchte verwundert den Sonnenstrahl zwischen all den finsteren Wolken. Doch der Lichtschein war verschwunden.
Große Regentropfen prasselten auf das zarte Gesicht des Jungen und tropften zusammen mit einigen Tränen der Einsamkeit von seiner Nasenspitze. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie er an diesen Ort gekommen oder wer er selbst überhaupt war. Nur ein kleiner Junge, allein gelassen in einem großen, dunklen Park.
Er begann laut zu schluchzen, doch niemand hörte seinen einsamen Schrei…
Kapitel 3
Der überfüllte Bus der Linie 22 rauschte achtlos durch eine große Pfütze, die die verlassene Vorstadtstraße in einen kleinen See verwandelt hatte. Mit Schwung versetzte der dem alten Mann, der gerade mit seinem 9-jährigen Hund namens Roberta spazieren ging, eine kalte Dusche. Roberta war die letzte Liebe in seinem Leben, nachdem seine Frau vor einigen Monaten gestorben war. Seit dem Tag, an dem sie dieses Leben verlassen hatte, war das Leben des alten Mannes erstarrt. Veränderungen machten ihm zunehmend Angst. Und so behielt er seinen festen Tagesablauf bei, wie er es am Tag des Todes seiner Frau getan hatte. Um sie zu ehren, sagte er sich.
Er stand früh um 7 Uhr auf, kochte seinen Morgenkaffee, kaufte das „Brot des Tages“ bei der Bäckerei um die Ecke und studierte die Tageszeitung.
Roberta unterdessen war stets in seiner Nähe und spürte die unterdrückte Traurigkeit in ihm. „Sieh mich nicht so an!“, sagte er jedes Mal zu ihr und verdrängte die schlechten Erinnerungen, indem er seine Tasse Kaffee nachfüllte. Doch heute war etwas anders. Dieser rücksichtslose Bus platschte mit voller Wucht durch diese Pfütze und sorgte für eine ungewollte Abkühlung. Roberta jaulte auf, der alte Mann verfluchte den Busfahrer und brüllte ihm etwas Unverständliches hinterher, während er fahrig das schmutzige Pfützenwasser von seiner Hornbrille wischte.
Ein junges Mädchen hatte das Unglück des alten Mannes vom Inneren des Busses der Linie 22 beobachtet und fragte sich nun, was er jetzt wohl tun würde. Würde er nach Hause zu seiner Frau gehen, warm duschen und mit ihr
eine heiße Schokolade trinken, um sich aufzuwärmen? Oder würde er eine Erkältung bekommen, seinen Sohn oder seine Tochter anrufen und ihnen sagen sie sollten mit dem lieber nicht Baby vorbeikommen, um es nicht anzustecken? Nichts davon würde geschehen, doch das konnte das Mädchen nicht wissen. Ihre Gedanken zerstreuten sich, als sie plötzlich von einem kleinen Sonnenstrahl geblendet wurde. Gebrochen durch die Regentropfen auf der Fensterscheibe des Busses. Kurz blinzelnd begann sie, ein Herz an das beschlagene Fenster zu malen – sie vermisste ihren Vater. Regentropfen liefen das Fenster herab, das Herz weinte.
Ihr Vater lebte hier in dieser kleinen Stadt. Sie jedoch lebte in der großen Stadt, weit weg. Sie hatte ihn für ein paar Tage besucht. „Daddy“, fragte sie oft, „warum können wir nicht zusammen leben?“
In letzter Zeit begann er oft zu weinen, wenn sie ihn das fragte. Sie hasste es, ihren sonst so starken Vater so zu sehen. Aber gestern weinte er nicht mehr. Er sprach ruhig und bedächtig. Und sie hörte zu. Aber sie verstand nicht
wirklich, was er ihr sagen wollte. Also würde sie ihn beim nächsten Mal noch einmal fragen.
Kapitel 4
Der Regen hörte auf, und das Einzige, was der kleine Junge hörte, waren die Regentropfen, die die Bäume des Parks von ihren Ästen und Blättern schüttelten. Er atmete tief ein und aus, salzige Tränen benetzten seine Lippen. Die kalte und nasse Luft erfrischte seinen Geist und er spürte, wie das Blut durch seinen Kopf rauschte. Etwas brachte ihn dazu, aufzustehen und zu laufen. Einfach irgendwohin. Einen Weg finden, um gefunden zu werden.
Nach einer Weile drangen Geräusche lauter Automotoren in sein Bewusstsein. Diesem Geräusch folgend, bahnte er sich einen Weg aus dem dem Park und stand plötzlich an einer großen Straße, die er nicht kannte. Der vom Regen nasse Asphalt war menschenleer, vielleicht saßen sie alle zu Hause vor ihren Fernsehern und schauten schlechte Filme voller Werbung auf RTL. Er schüttelte sich.
Lediglich ein alter Mann schlenderte die Straße entlang. Ein kleiner Hund trippelte hinter ihm her. Ein Bus fuhr vorbei und spritzte den Inhalt einer großen Pfütze auf den alten Mann und seinen Hund. Der kleine Junge zitterte. Seine Kleidung tropfte. Kälte kroch ihm in die Knochen. Der Bus rauschte vorbei und der Junge schaute ihm nach. In der letzten Reihe sah er ein Mädchen, das Herzen an die Fensterscheibe malte. Ihre Blicke trafen sich. Nur für einen Wimpernschlag. Der Junge zitterte noch immer, drehte sich um und ging zurück in den Park, auf der Suche nach einem trockenen Platz. Er dachte nicht einmal daran, nach anderen Menschen zu suchen, sie um Hilfe zu bitten. Er wusste, dass niemand kommen würde. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen war, aber er wusste, dass er vom Universum allein gelassen worden war und irgendwie zurechtkommen musste.
Kapitel 5
Die Zeit verging und der kleine Junge erinnerte sich oft an das Mädchen im Bus. Er wusste nicht, warum, aber irgendwie faszinierte sie ihn. Warum sollte sie allein mit dem Bus fahren? Richtung „große Stadt“. Er hatte die große Stadt noch nie gesehen. Es gab eine Menge Geschichten über sie. Schlechte Geschichten, gute Geschichten und einem inneren Ruf folgend, beschloss er, wieder nach diesem einen Bus Ausschau zu halten. Insgeheim hoffend, das Mädchen wiederzusehen. Etwas Besonderes würde passieren, das fühle er.
Kapitel 6
„Daddy“, fragte das kleine Mädchen, „warum können wir nicht zusammen leben?“
Sie fragte es diese Woche. Und eine weitere Woche. Und noch eine.
„Weil Menschen manchmal nicht zusammengehören und sich trennen, um ihren eigenen Weg zu finden“, antwortete ihr Vater heute.
„Gehöre ich zu jemandem, Daddy?“ Eine unheimliche Angst kroch durch ihr Herz, als sie daran dachte, ihm diese Frage beim nächsten Besuch zu stellen. Wollte sie die Antwort wirklich hören?
Trotz ihrer Angst huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie im Bus sitzend an dem Park der kleinen Stadt vorbeifuhr. Würde sie diesen Jungen wiedersehen, dessen Blicke sie kürzlich vom Bus aus erhascht hatte?
Er saß jedes Mal, wenn sie mit dem Bus vorbeifuhr, auf der Bank, schaute sie an und lächelte. Jedoch auf eine traurige Art.
„Halt! Halten Sie den Bus an!“, schrie sie aus der letzten Sitzreihe. „Halten Sie an! Ich muss aussteigen!“
Der Busfahrer trat erschrocken auf die Bremse und stotternd hielt der Bus an der nächsten Haltestelle. Das Mädchen zog sich die Kapuze über den Kopf und sprang hastig auf den Bahnsteig.
Es regnete schon wieder. Warmer Regen für diese Jahreszeit, aber die Nässe sickerte langsam durch ihre Kleidung.
Es war bereits dunkel und eine überwältigende Angst ergriff Besitz von ihr. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, hier im Nirgendwo wegen eines unbekannten Jungen im Dunkeln auszusteigen?! Sie wollte zurück zum Bus und drehte sich um. Doch der Busfahrer war bereits kopfschüttelnd und grummelnd weiter gefahren. Was hatte sie nur getan? Dies war der letzte Bus für heute gewesen. „Ich Dummkopf!“, flüsterte sie.
„He da“, sagte eine leise Stimme direkt hinter ihr. Das kleine Mädchen drehte sich erschrocken um und wollte schreien. Doch sie verstummte.
Kapitel 7
Die ersten Sonnenstrahlen des Tages streichelten ihre Gesichter. Die Augen des Mädchens funkelten wie Sterne und spiegelten das erste Tageslicht. Die flackernde Halogenlampe unter dem Dach des Busbahnhofs erlosch leise surrend.
Der alte Mann drehte seine morgendliche Runde und Roberta trottete brav hinter ihm her. Er nieste laut und Roberta schaute besorgt zu ihrem menschlichen Freund empor.
„Was machen zwei kleine Kinder so früh am Morgen an einer Bushaltestelle?“, sagte der alte Mann kopfschüttelnd zu Roberta und nieste erneut. Er schnäuzte sich die Nase und schickte sich an, in der Bäckerei das „Brot des Tages“ kaufen. Der Junge und das Mädchen sahen sich einander in die Augen und lächelten. Was für ein lustiger Kerl!
Seitdem die beiden sich gestern Abend getroffen hatten, hatten sie geredet. Sie hatten sich die ganze Nacht am Busbahnhof unterhalten, wo der Regen ihnen nichts anhaben konnte. Sie waren sich näher gekommen, hielten sich an den Händen, wärmten sich, lachten, weinten, schwiegen. Sie erkundeten offen und ehrlich die dunkelsten Höhlen der menschlichen Existenz, wie es nur Kinder tun. Sie zeigten sich ihre Wunden, die langsam zu heilen begannen. Stets beschützt durch eine Hülle, wundersam geformt aus der Anziehungskraft zwischen ihnen. Es gab nur sie beide in dieser Welt. Kein Gestern, kein Morgen. Nur das Jetzt.
Langsam erwachte die kleine Stadt, Autos fuhren umher, der klapprige Müllwagen mit dem zweifelhaften Slogan „Euer Müll ist unser Lebenselixier“ fuhr vorbei und hielt die Leute davon ab, zur Arbeit zu fahren. Es hupte, brauste und rauschte, als seien die Straßen die Adern des Lebens. Rundherum schien alles hektisch zu sein. Nur dieser kleine Busbahnhof blieb eine Insel der Stille für die beiden Kinder. Wie das Auge eines Sturms. Nichts brauchte geändert zu werden, alles war perfekt. Aber etwas veränderte sich.
Das Mädchen blickte auf den steinigen Boden hinunter und folgte dem schwarz-weiß karierten Muster des Bussteigs. Der Junge sah Sorge in ihren Augen. „Geht es dir gut?“, fragte er.
Aber keines seiner Worte erreichte sie. Überwältigende Angst stieg in ihr auf. Sie war gestern nicht nach Hause gekommen. Ihre Mutter würde wütend sein. Ihre Mutter würde ihrem Vater dafür verantwortlich machen. Die beiden würden sich wegen ihres Egoismus streiten und es würde etwas wirklich Schlimmes passieren. Sie konnte nicht sagen, was es sein würde, aber es würde lebensgefährlich sein, da war sie sich sicher!
„Ich muss jetzt gehen“, flüsterte das Mädchen plötzlich. „Ich muss zurück nach Hause. Meine Mutter wartet auf mich … seit gestern Abend. Ich bin in ernsten Schwierigkeiten … obwohl ich gerne bleiben würde.“
Der Bus der Linie 22 fuhr geräuschvoll ein und hielt vor ihnen. Nach dieser intensiven Nacht der Gespräche, wusste der Junge nichts mehr zu erwidern. Er war nicht in der Lage, sich zu rühren. Er wusste immer noch nicht, wer
er war, aber er wusste, wer dieses Mädchen war. Und sie war im Begriff, sein Leben für immer zu verlassen. „Tschüss“, sagte sie mit tiefer Traurigkeit in ihren Stimme.
„Tschüss“, dachte der kleine Junge, unfähig, sich zu bewegen, unfähig zu sprechen. Unfähig, sein Leben in die Hand zu nehmen.
Die Luft der Bremsen entwich aus den Ventilen des Busses, der Motor heulte auf und der Bus fuhr an. „Warte“, sagte der Junge ohne Stimme. „Warte doch!!!“
Noch nie in seinem jungen Leben war er so schnell gerannt, aber jetzt rannte er. Rannte, rannte, rannte. „WARTE!!!“
Kapitel 8
Seine Lungen brannten, seine Beine zitterten, Tränen liefen ihm über das Gesicht. Der Bus war schneller als er.
Atemlos blieb der Junge stehen und ließ sich auf dem Gehweg fallen. Grauer Asphalt erstreckte sich vor ihm. Kein grünes Gras wie im Park.
Kalter Asphalt. Der Junge fühlte sich, als ob er den tiefsten Punkt seines Lebens erreicht hätte. Nach einer dunklen und unbekannten Vergangenheit hatte ihm das Leben kurz das Paradies gezeigt. Tiefe Verbindung. Geborgenheit. Und nun war es ihm wieder entrissen worden.
Ferne Geräusche von hupenden Autos, bellenden Hunden und ein zarter Geruch des „Brotes des Tages“, aus der Bäckerei nebenan, ließen ihm einen überraschend wohligen Schauer über den Rücken laufen. Etwas hatte sich verändert. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr allein. Der Park war Vergangenheit. Der Regen war verschwunden. Eine lebendige Stadt umgab ihn. Das Leben umtanzte ihn. Ein kleiner Sonnenstrahl berührte sein Gesicht und brachte ihn zum Lächeln.
Das Mädchen, oder zumindest die Erinnerung an sie, holte ihn zurück ins Leben! Zurück in die Realität …
Kapitel 9
Die Jahre vergingen, der Junge wuchs heran und wurde ein junger Mann. Er entdeckte das Leben und seine Liebe für alle Arten von Tee, so dass er eines Tages sogar einen Teeladen direkt neben dem Busbahnhof eröffnete.
Der Bus von damals, der mit den Herzen auf der Scheibe der Linie 22, wurde in Rente geschickt und durch einen neuen ersetzt. Die Parkbank, auf der der Junge zu sitzen pflegte, war baufällig geworden und brach eines Tages zusammen, als ein betrunkenes Pärchen sich dort nach einer Silvesterparty heftig küssten. Der alte Mann wurde älter, ignorierte griesgrämig den neuen Teeladen und schleifte die alte Roberta jeden Tag daran vorbei, obwohl sie all diese spannenden Teesorten erschnüffeln wollte.
Eines Tages kam der alte Mann jedoch nicht mehr vorbei und niemand holte sein bereits bezahltes „Brot des Tages“ ab.
Kapitel 10
Der Winter kam und der erste Schnee bedeckte den Park, die Autos und den alten Kummer. Der junge Mann schaute aus dem Fenster seines Teeladens. Ein kleines Mädchen ging vorbei und hielt die Hand ihres Vaters. Das Mädchen zeigte auf eine Weihnachtsdekoration, die der junge Mann vor einigen Tagen in das Schaufenster gestellt hatte. Das Mädchen blieb kurz stehen, löste ihre Hand von der ihres Vater, hauchte das Fenster an und begann eine Herzform zu malen.
Der junge Mann bekam einen Kloß im Hals und schloss die Augen, um seine Tränen zu unterdrücken. All diese Erinnerungen an das kleine Mädchen vor vielen, vielen Jahren kamen in seinem Kopf hoch. Der Park, der Bus mit den gemalten Herzen auf der Fensterscheibe, der alte Mann, Roberta, seine Einsamkeit, der Ausweg daraus und sein langer Weg bis zu diesem Augenblick in seinem eigenen Teeladen. Sie hatten sich nie wiedergesehen und er fragte sich, wie es dem Mädchen heute ging, wo sie war und was sie tat.
Er öffnete seine Augen. Das kleine Mädchen war verschwunden und die Herzform verblasste.
Es läutete an der Tür, jemand betrat den Laden. Eine Frau kam herein und schloss leise die Tür.
„Hallo“, sagte sie mit sanfter Stimme und nahm ihre eingeschneite Mütze ab. Eine Strähne ihres schulterlangen, braunen Haares fiel ihr ins Gesicht und sie versuchte erfolglos, sie zurückzuschieben.
Friedliche Stille erfüllte den Laden und der junge Mann beobachtete die Frau aus dem Augenwinkel, während sie sich im Laden umsah. Sie wandte sich ihm zu: „Können Sie mir helfen? Ich suche nach einem besonderen Tee,
den ich vor vielen Jahren getrunken habe und dessen Geschmack ich einfach nicht vergessen kann. Es war ein grüner Tee.“
Der junge Mann antwortete etwas irritiert: „Ja, gerne. Ich kann Ihnen tatsächlich ähm … sieben Sorten grünen Tees anbieten. Gibt es etwas Besonderes, das Sie suchen? Dieser hier kommt aus China und ist sehr stark, dieser ist aus Japan … ein milder Tee. Oder dieser hier hat einen besonderen Geschmack von …“
„Ich erinnere mich nur daran, dass der Tee das Wasser überhaupt nicht verfärbte und sehr mild schmeckte“, unterbrach die Frau ihn leise und hielt eine Packung japanischen Tees in der Hand.
„In diesem Fall … ist dieser hier Ihre erste Wahl!“ Der Mann zeigte auf die Hände der Frau und berührte sie versehentlich. Ihre Hand war viel kälter als sie seine. Ein kleiner Funke sprang über und er zuckte zusammen. „Oh, s..s..sorry!“, stotterte er.
Das Bild des Herzens auf der Fensterscheibe kam ihm wieder in den Sinn. Die braunen Augen des Mädchens von damals und die Anziehungskraft, die sie vor Jahren gespürt hatten. Eine unbestimmte Vorahnung bahnte sich den Weg aus seinem Unterbewusstsein in seinen Verstand. Die junge Frau stand regungslos vor ihm und atmete leise, aber schnell.
Der junge Mann blickte auf.
Die junge Frau blickte auf.
Ihre Augen trafen sich.
Funkelnde Sterne.
Weit, weit weg hörte man eine Kiste japanischen Grüntees auf den rustikalen Holzboden fallen.
Eine plötzliche Welle aus purer Anziehungskraft ließ die alten Deckenlampen für eine Sekunde flackern. Äonen vergingen und alles verschwamm …
Ein Müllsammler sprang von seinem neuen Müllwagen herunter, der noch immer behauptete, „Ihr Müll ist unser Lebensinhalt“. Gedankenverloren griff er nach der Mülltonne des Teeladens, schaute durch die winterlich geschmückten Scheiben und lächelte über das, was er sah. Zwei junge Menschen lagen sich in den Armen und küssten sich, als hätten sie den Sinn des Lebens gefunden …
Kapitel 11
Es war einmal ein kleiner Sonnenstrahl, der die Erde besuchen sollte. Wie seine unzähligen Brüder und Schwestern zuvor, passierte er den kalten Weltraum und kam glücklich auf der Erde an.
„Was für ein wunderbarer Ort das hier ist“, dachte er. Der klare, blaue Himmel lud den Sonnenstrahl ein, auf die Erde hinabzusteigen und die verschneite kleine Stadt zu erleuchten.
„Wunderbar“, flüsterte der Sonnenstrahl und beschloss, mit einem großes Glitzern zu verschmelzen, das von Schneeflocken in einem Park ausgesandt wurde.
Ein junges Pärchen spazierte händchenhaltend durch einen großen Park. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Kleine Vögel flogen umher, zwitscherten und suchten nach Körnern. Ein rotes Eichhörnchen grub hastig im Schnee, auf der Suche nach einer Haselnuss, die es im Herbst dort versteckt hatte. Ansonsten war es still um sie herum. Frieden und Ruhe umhüllten den Mann und die Frau und verband sie in tiefer Liebe.
„Sieh dir das an“, flüsterte die Frau und deutete auf eine helle Stelle im Schnee. „Der Schnee leuchtet für uns.“
Sie blieb stehen und sah dem jungen Mann voller Liebe in seine blauen Augen. „Regen und Dunkelheit sind vorbei, kleiner Junge. Die Zeit der Sonne und des Lichts hat begonnen.“
Ihre Hand streichelte sanft sein Gesicht, sie lächelte und beide sagten leise:
„Zuhause.“