Würfel

Heute hatte ich eine spannende Assoziation – eine, die sinnbildlich für meine und viele andere Transitionen zu stehen scheint.

Ich spiele gerne Computerspiele, sofern es meine Zeit zulässt. In meiner Jugend verfluchten meine Eltern meinen Computer, weil ich viel Zeit damit verbrachte – schlussendlich ebnete mir das aber den Weg in meinen Job und an den Punkt, wo ich beruflich heute stehen darf. Außerdem lehrten mich im Laufe der Jahre zahllose Rollenspiele, wie gewisse gesellschaftliche Mechanismen funktionieren und verbildlichte mir die Sache mit der Persönlichkeitsentwicklung.

In Rollenspielen ist es ja in der Regel so, dass die Spielfiguren anfangs schwach und unerfahren sind, durch Erfahrungspunkte neue Fähigkeiten erwerben und neue Handlungsstränge freischalten. Und im Grunde ist es im echten Leben genauso. Ja, weitaus komplexer, aber der Wirkmechanismus ist vergleichbar. Seit ich damals das Rollenspiel “Gothic” spielte, verinnerlichte ich mir eine Frage, weil sie dort so oder ähnlich oft gestellt wurde: “Was ist der nächste Schritt, den ich gehen muss, um an mein Ziel zu gelangen?” In diesem Spiel richtet die Hauptfigur diese Frage recht oft an Auftraggeber. “Was muss ich tun, um in die Oberstadt zu gelangen?” “Was muss ich tun, damit Person X mit mir spricht?” Und so weiter. Spannender Weise funktioniert das in der Realität auch meistens recht gut, weil diese Art der Problembewältigung nicht danach fragt, ob etwas möglich ist, sondern konkret nach dem Wie. Teile dieses Vorgehens war und ist mir auch in der Transition bisweilen behilflich gewesen. “Okay, was kann ich tun, damit ich XY erreiche?” Doch auf diesen Punkt wollte ich in diesem Artikel gar nicht hinaus, er fiel mir lediglich am Rande ein, weil er zum Thema passt.

Die eigentliche Assoziation, die ich heute hatte, bezog sich zwar auch auf Computerspiele und Rollenspiele im speziellen, drehte sich aber um einen anderen Aspekt: das Freischalten neuer Dinge. Das können in den Spielen Fertigkeiten sein oder Gebiete, die man betreten darf, sobald gewisse Voraussetzungen erfüllt sind. Mich motiviert diese Spielmechanik sehr. Die heutigen Vorraussetzungen für die “Freischaltung” eines – sagen wir “Upgrades” – waren für mich jedoch zunächst nicht klar beschreibbar, aber lasst es mich mal wie folgt versuchen:

  • Erreichen einer gewissen Haardichte und -länge nach der Haartransplantation vor 4 Monaten
  • Ein paar Komplimente / positive Bemerkungen über meinen Haarwuchs in den vergangenen 2 Wochen
  • Zufriedenheit mit dem derzeitigen Fortschritt des Haarwachstums
  • Meine Freundin M. an meiner Seite, die mir Mut machte
  • Eine vertraute Umgebung

Ich möchte vorausschicken, dass ich mich bei der Anreise zur Korrektur-OP gegen das Tragen meiner Perücke entschieden hatte. Stattdessen trug ich meine beinahe schon markenbildende dezent rosafarbene Strickmütze, um den Haaransatz noch ein wenig zu verdecken. Negative Erfahrungen machte ich damit nicht.

Müde, ständig diese Perücke zu tragen, entschied ich mich auch heute für den Termin bei der Maniküre gegen sie, was mich keine nennenswerte Überwindung mehr kostet. Unterwegs ging mir dann jedoch auf, dass meine Mütze so gar nicht zu meinem auberginefarbenen Sweatshirt passte und das ging irgendwie gar nicht. 🙂 Spontan schaute ich im Einkaufszentrum nach einer alternativen Kopfbedeckung, außer Wintermützen mit Bommel war dort jedoch nichts zu finden. Also kam mir der Gedanke, die Mütze im Nagelstudio schlicht und ergreifend auszuziehen. Etwas in mir schaute mich bei dieser Idee jedoch etwas schräg an und bekam Angst davor. Bestimmt würden alle dort ganz komisch gucken, zumal sie mich bisher nur mit Perücke kennen und wir nie über das Thema Transidentität gesprochen haben. Offen gestanden weiß ich nicht, ob sie es wissen oder wenigstens vermuten. Und eigentlich ist es mir auch total egal, denn es tut rein gar nichts zur Sache.

Als ich M. meine Gedanken kurz schilderte, bekräftigte sie mein Vorhaben ohne großes Aufheben darum zu machen und in einem Akt von “ach, pfeif drauf, ich mach das jetzt einfach”, tat ich es, ohne weiter darüber nachzudenken.
Und was geschah? Nichts. Niemanden störte es. Niemand guckte komisch. Jedenfalls nicht, dass ich es mitbekommen hätte. Okay, gegen Ende schaute eine andere Kundin M. und mich musternd an, wusste uns offenbar dann doch nicht so recht einzusortieren. Aber das war’s dann auch. Es kümmerte mich nicht.
Und plötzlich kam mir dieser Gedanke an die Computerspiele. In diesem Moment hatte ich ein “neues Spielgebiet” für mich “freigeschaltet” und ich hatte quasi ein Charakter-Upgrade erhalten, mit dem ich mich nun in mehr und mehr Situationen traue, die Perücke weg zu lassen und meine echten Haare zu zeigen. Selbst, wenn man die Spuren der Transplantation noch sehr deutlich sieht. Neue Fähigkeiten, mehr Möglichkeiten, mehr Aufatmen, mehr Leben, mehr Echtsein!

Das ist die Story. Computerspiele. Meine Haare. Und ich bin sicher, in Zukunft wird es viele weitere Situationen wie diese geben. Schritte aus der Komfortzone. Das stückweise Zurückerobern und Erweitern meiner Welt, von der ich mich all die Jahrzehnte aus Angst und Scham zurückzog.
Ich wette, viele von euch können nachvollziehen, wie sich das anfühlt. Es ist ein klein wenig vergleichbar mit dem Zurückkehren in den Alltag nach einer längeren Krankheit oder Verletzung. Manchmal muss man dafür die Zähne zusammenbeißen, doch am Ende lohnt es sich immer. Zwar regnet es keine virtuellen Goldmünzen wie im Spiel, dafür aber das gute Gefühl, etwas vorher Undenkbares geschafft zu haben.

Habt ihr auch ein großes Ziel?

Dann fragt euch doch heute mal:

Was konkret könnt ihr tun, um dem Ziel einen Schritt näher zu kommen?
Welche Vorraussetzungen sind möglicherweise noch nicht erfüllt?
Mit wem müsst ihr vielleicht sprechen, um die Tür für euch zu öffnen?
Wer kann euch bei dabei unterstützen und Mut machen?

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One Thought to “Was Computerspiele und meine Haare gemeinsam haben”

  1. […] aus meiner Sicht untragbare Situation für künftige Betroffene zu verbessern. Bezugnehmend auf meinen letzten Artikel frage ich mich, mit wem ich sprechen muss und welche Hebel ich umlegen muss, um anderen trans […]