Was genau war das heute für ein Tag? Ein guter? Ein schlechter? Ein ambivalenter? Vielleicht war es am Ende einfach nur ein Tag gemeinsamem Ausbruchs aus Komfortzonen. Ein kraftvoller Tag.
Offen gestanden bin ich noch sprachlos. In mir herrscht einerseits große Freude und Aufbruchstimmung, doch gleichzeitig bleiben mir die Worte im Halse stecken. Denn der Nachmittag und Abend des heutigen Tages waren…intensiv.
Zäumen wir das Pferd von hinten auf. Heute Abend fand wieder eine Termin der Gruppentherapie statt und der war bedeutend heftiger als sonst. Wichtig und richtig, ohne Frage. Doch mit den tiefsten Abgründen menschlicher Existenz gespickt. Wir alle standen im Anschluss noch draußen vor der Tür. Manche rauchten, beruhigten ihre Nerven. Andere schwiegen. Die Details des Abends gehören nicht hier her, daher werde ich dazu schweigen. Doch für euch zur Einordnung, in welchen Gefilden wir uns heute lange Zeit bewegten: es ging um das Thema Missbrauch.
Noch immer spüre ich den Kloß im Hals. Noch immer schnürt es mir die Brust zu. Menschen können so grausam sein. Dennoch endete unsere Runde nicht in tiefer Trauer und schweigender Betroffenheit. Wir hatten geredet. Und zugehört. Waren füreinander da und hielten den Raum. Unseren sicheren Raum. Fingen hoffentlich etwas auf, was abzustürzen drohte. Trotz aller Dunkelheit an diesem Ort war das so viel Gutes heute Abend! So viel Nähe, Echtsein. Füreinander da sein. Nicht alleine sein. Und dafür liebe ich diese Gruppe! Jede von uns hat ihr eigenes Leben, kommt aus einer anderen Himmelsrichtung, mit einer eigenen Geschichte und damit verbundenen Narben.
Und dennoch sind wir in diesem Raum Eins. Ein Haufen liebenswerter, starker, kraftvoller und mutiger Frauen, die sich entschieden haben, ihr Leben in die Hand zu nehmen und für sich einzustehen! Und unser Therapeut hält all das zusammen. Stellt den Raum und hält ihn, wenn die Sprachlosigkeit vielleicht doch mal zu groß wird.
Pause
Ich mache eine kurze Schreibpause. Denke nach. Wie um alles in der Welt kriege ich jetzt die Überleitung zum Nachmittag und damit meiner Einzeltherapie hin, ohne die Besonderheit des Abends anzukratzen?! Ich glaube, ich krieg’s gerade nicht hin, daher wähle ich den harten Bruch. Radikaler Themenwechsel.
Mein letztes Einzel liegt schon Monate zurück. Im Dezember vergangenen Jahres muss das gewesen sein. Seither ist so viel passiert. Und an aktuellen Themen mangelte es nun wahrlich nicht. Keine ernsthaften Probleme, die es zu lösen galt. Eher – Reflexionen. Eines der Themen waren meine sich ändernden Empfindungen in Bezug auf romantisches Interesse und den mittlerweile beinahe vulkanartig ausbrechende Wunsch, Erfahrungen mit dem Daten von Männern zu sammeln. Augenblicklich sind diese Gefühle wirklich überschäumend und bisweilen anstrengend. Fühlt sich so die weibliche Pubertät an? Vielleicht. Heftig, sag ich euch. Ich fühle mich kaum zurechnungsfähig, was das betrifft. Pfffff…wow. Das ist neu.
Doch wisst ihr, was der Oberknaller war?! Mein Therapeut riet mir nach meiner Ausführung doch dann allen Ernstes zum aktiven Daten von Männern. „Denken Sie nicht nur darüber nach. Tun Sie es! Sammeln Sie Erfahrungen!“ Und ja, natürlich hat er Recht, wie fast immer. Diese Aussage fühlte sich ein bisschen danach an, als hätte mich ein guter Geist gerade sanft ins Leben geschubst. „Flieg, kleiner Vogel! Du bist frei!“
Und nun stehe ich da. Mein irres Gefühlschaos auf der einen Seite. Und meine Angst vor der eigenen Courage auf der anderen Seite. Und mitten drin steckt mein von Emotionen fast mundtot gemachter Verstand, der ruft: „Was ist schon dabei?! Schau, welche Hürden du bisher in der Transition oder generell im Leben schon genommen hast. Da wird dich doch ein bisschen Flirten nicht aus der Bahn werfen, oder?!“ Und das Herz ergänzt: „Liebes, Du weißt doch eh schon, dass das der richtige Weg ist. Also zögere nicht. Setze einen ersten kleinen Schritt. Und dann den nächsten.“
Es ist…es macht mich sprachlos. Und irgendwie glücklich. Aber ich habe auch etwas Angst. Alles ändert sich in mir gerade so schnell und ich kann es nicht bremsen, um kurz Luft zu holen. Doch eigentlich will ich das auch gar nicht, bremsen. Ich habe mein ganzes Leben gebremst. Ich will nicht mehr bremsen. Auch auf die Gefahr hin, einen Crash zu bauen, mit gebrochenem Herzen auf dem Bett zu liegen und mir die Augen wegen irgend eines Idioten auszuheulen. Auch auf die Gefahr hin, meiner Freundin am Telefon die Ohren vollzujammern und dabei immer wieder unkontrolliert in Tränen auszubrechen. Egal. Das gehört zum Leben dazu, oder?! Es läuft einfach gerade alles für mich. Das Leben hat mein Leben gefunden…
Einen runden Abschluss für diesen Artikel finde ich gerade nicht, dafür bin ich zu müde. Und nach all dem fällt es wohl auch kaum mehr ins Gewicht, was einige Mädels aus der Gruppe im Anschluss an den Termin zu mir sagten: ob ich noch Logopädie machen würde. Etwas hätte sich an meiner Stimme verändert. Und sie seien ganz neidisch auf meine Stimme. Ich glaube, ich bin etwas rot geworden. Und Pia verdrehte dabei die Augen. An diesem Tage ist das nur eine Randnotiz, aber eine wertvolle.
Lasst mich mit einem Bezug zum Titel enden. „Kraftvoll“ habe ich ihn getauft. Und zwar deshalb, weil ich heute von kraftvollen Menschen umgeben war. Einzelne zwar am Boden zerstört, aber von innen strahlten sie. Und waren so immens kraftvoll. Und ganz ohne Eigenlob möchte ich wagen zu behaupten, dass auch ich Teile dieser Kraft in mir trage. Kraft für meine Stimme. Für meine Beziehungen. Für meine Gegenwart und Zukunft.Und für meine Mitmenschen, die ich nach eigener Aussage dadurch inspiriere, indem ich bin, wie ich bin. Indem ich tue, was ich tue. Authentisch sein.
Ein kraftvolleres Geschenk kann ich mir wohl kaum wünschen!