Willkommensgeschenk

Entlassung. Abreise. Nach Hause kommen. Ankommen. Geliebt werden. Dankbarkeit. Meine vergangenen 24 Stunden.

„Sie sind ja noch hier!“ Ein wenig überrascht öffnet mir der Pfleger die Tür zum Pflegezimmer. Ich stehe gestiefelt und gespornt im Türrahmen, fest in der Absicht, mich noch Schmerzmitteln für die kommenden Tage ausstatten zu lassen. Es ist gerade 10 Uhr durch, meinen Entlassungsbrief habe ich in der Tasche und in knapp zwei Stunden fährt mein ICE vom Münchener Hauptbahnhof ab. Ich lache, nehme die Medikamente entgegen und verabschiede mich von den Anwesenden. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge…

Das waren die letzten Minuten in den Dr. Lubos Kliniken in Bogenhausen. Gestern. Danach packte ich mich warm ein und verabschiedete mich von meiner Zimmernachbarin. Nach den anfänglich unschönen Situationen hatten wir die vergangenen Tage etwas besser zueinander gefunden. Wenn ihre Schmerzen nachließen, unterhielten wir uns lange über kulturelle und familiäre Themen, denn sie kam vor 6 Jahren aus Syrien nach Deutschland und hat trotz ihrer knapp über 20 Jahre schon ein bewegtes Leben hinter sich. Es war auch spannend zu erfahren, wie man in der muslimischen Familie mit ihrer Transidentität umging. Ganz anders, als bei uns. Aber am Ende wird sie nun akzeptiert, wie sie ist. Und das hat mich riesig gefreut. Wir tauschten noch eMail-Adressen aus und ich versprach ihr, Bescheid zu geben, sobald ich zu Hause bin. „Mach’s gut, Schatzi“, sagte sie. „Schatzi“. Ihr Universalbegriff für fast jeden Menschen. Selbst die Schwestern waren dann und wann „Schatzi“. Schon irgendwie süß.

Als ich die Klinik verließ, überkam mich ein wenig Abschiedsschmerz. Dieser Ort und seine Menschen haben mich über die vergangenen 3 Wochen bei den ersten Schritten in mein neues Leben begleitet, mich unterstützt wo sie konnten und hatten dabei stets ein freundliches Wort auf den Lippen. Über die Zeit entstand da wirklich eine gewisse persönliche Verbindung und ich bin wahnsinnig dankbar für alles, was diese großartigen Menschen für mich getan haben.
Just heute Mittag überkam es mich daher und ich schickte einen dicken Blumenstrauß nebst Dankeskarte an das Team von Station 2. Das war einfach nötig, zumal ich nur wenigen von ihnen aufgrund der Schichtpläne persönlich danken konnte. Und dennoch ist dies nicht mehr als nur eine Geste, die meine Dankbarkeit nur im Ansatz auszudrücken vermag.

„Willkommen an Bord des ICE der Deutschen Bahn“

Die kühle, frische Luft atmend lief ich mit einem kleinen Gefühl von Schutzlosigkeit in Richtung U-Bahn. Ich war noch früh dran und hoffte, dass ich die Zeit bis zur Abfahrt des ICE gut und vor allem in warmer Umgebung verbringen konnte. Noch eine Blasenentzündung wollte ich mir nun wirklich nicht einfangen.
Mit einer in die Jahre gekommenen Tram fuhr ich stehend in Richtung Hauptbahnhof. Menschen, viele Menschen. Ich fühlte mich unwohl dabei und war mir sicher, dass binnen der nächsten 7 Tage meine Corona WarnApp erneut auf Rot springen wird. Den Gedanken verwarf ich jedoch schnell wieder, denn nach nur 5 Minuten in der U-Bahn wusste ich nicht mehr so recht, wie ich stehen sollte. Die veränderte Belastung der OP-Stelle forderte schon ihren Tribut, so dass ich schlussendlich erleichtert aus der Tram ausstieg und ein paar Schritte auf dem Bahnsteig gehen konnte. Das linderte die Schmerzen. Etwas orientierungslos irrte ich durch die Katakomben des Münchener Hauptbahnhofs und versuchte mich zu orientieren. Da ich noch viel Zeit hatte, kaufte ich mir noch ganz entspannt eine Flasche Wasser. Beim Bezahlen fiel mir ein Zettel aus dem Portemonnaie. Ohne groß darüber nachzudenken, bückte ich mich, um ihn aufzuheben. Doch dann verließen mich plötzlich die Kräfte, meine Oberschenkel zitterten wie nach 2 Stunden Sport und hätten beinahe dazu geführt, dass ich nicht mehr in die Senkrechte gekommen wäre. Hoppla!

Das war der erste Moment an diesem Tag, an dem ich feststellte, wie geschwächt meine Muskulatur durch den Klinikaufenthalt wurde. Doch später sollte es noch kritischer werden.

Mit leicht zittrigen Knien stiefelte ich weiter durch den Bahnhof und fand nach einer gefühlten Ewigkeit mein Gleis. Eine Stunde Zeit hatte ich noch. Weit und breit waren keine bequemen Sitzmöbel zu finden, nur diese kalten, harten und lieblosen Bahnhofsmetallbänke. Also entschloss ich mich dazu, ein wenig in der Sonne auf und ab zu gehen, die Zeit für die Vereinbarung eines Folgetermins mit meinem Gynäkologen zu nutzen und einfach meine Muskulatur ein wenig in Aktion zu versetzen.

Nach einem gefühlten Laufpensum von etlichen hundert Metern auf dem Bahnsteig öffneten endlich die Türen des ICE. Die Türen zu einem neuen Leben. Recht schnell wurde mir klar, dass die Buchung eines Ruheabteils in der 1. Klasse die beste Wahl war, die ich hätte treffen können. Das kleine Abteil fühlte sich angenehm an, wie ein kleiner Schutzraum. Und genau das brauchte ich in diesem Moment. Einziger Wermutstropfen waren die Sitze, die für meine Situation definitiv zu hart waren. Und so verbrachte ich die 4 1/2 Stunden im ICE damit, mich alle paar Minuten anders hinzusetzen oder ab und an mal aufzustehen. Ich merkte aber sehr deutlich, dass meine Wunden das nicht so richtig toll fanden.

Daher stieg ich schließlich erleichtert in Köln aus, rollte meinen Koffer zügig vorbei an etlichen Polizeibeamten, die einen Fahrgast aus dem ICE eskortiert hatten. Und dann traf mich der Schlag: offenbar gab es an dieser Stelle keinen Aufzug! Ich musste also mit meinem schweren Koffer, Rucksack und schwachen Beinmuskeln irgendwie da hoch und wieder runter. Nach nur wenigen Stufen finden meine Knie an zu zittern, mein Puls begann zu rasen und unter der FFP2-Maske fiel das atmen schwer. Auf der ersten Plattform musste ich eine Pause einlegen, hatte aber die Ambition, das alles alleine zu schaffen. Am Ende klappte das auch alles, doch als ich auf dem S-Bahn-Steig ankam, japste ich nach Luft und musste mich auf meinen Koffer stützen. Kurz hatte ich Sorge, dass meine Beine nachgeben und ich einfach auf dem Bahnsteig zusammenklappen würde. Ich war einigermaßen entsetzt darüber, wie massiv diese 3 Wochen mit wenig Bewegung meine Muskulatur beeinträchtigt hatten. Diese paar Stufen wäre ich vorher ganz locker gelaufen, auch mit Koffer.
Nun wird es bei der weiteren Genesung also nicht nur darum gehen, dass die Wunden gut verheilen, sondern auch darum, die Muskulatur wieder auf ein normales Leistungsniveau zu bringen. Da ich jedoch noch lange keinen Sport machen darf, wird das wohl ein längerfristiges Projekt.

Nun stieg ich dann in die S-Bahn nach Hause ein und stellte unmittelbar fest, wie unterschiedlich die Klientel zwischen Fernreisen im ICE und dem örtlichen Nahverkehr ist. Nach der ruhigen Fahrt im ICE begegneten mir in der S-Bahn direkt ganz andere Varianten sozialer Gruppen. Laut plärrende Teenager, die die erste Klasse besetzt hielten und ihre Musik laut laufen ließen. Das Zusatzticket hätte ich mir sparen können. Junge Männer mit asozialem Tonfall, die mich blöd von der Seite anmachten, weil sie Geld gewechselt haben wollten und kurz davor waren, rumzupöbeln. Laut telefonierende Menschen. Es schüttelte mich innerlich. Genau wegen solcher Situationen mag ich öffentliche Verkehrsmittel nicht. Gruselig. Die Fahrt mit dem ICE hingegen gefiel mir richtig gut.

Erleichtert und mittlerweile ziemlich erschöpft stieg ich schließlich am Zielbahnhof aus und meine Mama und ich fielen uns in die Arme. Mein Papa und ich auch. Endlich zu Hause! „Hallo Hometown!„, wie Bosse im gleichnamigen Song singt. Es ist so schön, wieder in der Heimat zu sein! Die rheinische Abendluft einzuatmen. Die eigene Straße wiederzusehen. Die eigenen vier Wände, in der die Luft noch nach 3 Wochen Urlaub riecht, aber alles noch da steht, wo ich es hinterlassen hatte. Also hätte man hier auf mich gewartet.

Ankommen

Naja. Es war nicht alles an seinem Platz. Denn zu Hause erwartete mich ein super süßes Willkommensgeschenk, das meine Töchter zusammen mit meiner Mutter gebastelt hatten. Bunt bemalte Steine vom Rhein und eine ganz tolle Karte. Siehe Titelbild. Mir kamen unmittelbar Tränen der Rührung. So viel Liebe spricht daraus! Schnief…

Julia in der BahnAn dieser Stelle fällt mir der Kommentar einer Bekannten ein. Ich hatte gestern ein Foto von mir im ICE auf verschiedenen Kanälen gepostet und ich fand, ich sah darauf der Situation entsprechend erschöpft aus. Jene Bekannte schrieb dann aber:

„Du wirkst total angekommen.“

Darüber musste ich erst einmal nachdenken, weil ich gedanklich und gefühlsmäßig noch so sehr im GaOP-Tunnel bin. Doch mittlerweile gebe ich ihr – zumindest in Teilen – Recht. Ja, etwas in mir ist durch die OP zur Ruhe gekommen, angekommen. Das zeigte mir auch meine spontane Antwort auf die gestrige Frage meiner Mutter: „Wie geht’s dir jetzt? Fehlt dir ‚da unten‘ etwas?“ Ohne nachzudenken konnte ich diese Frage mit „Nein“ beantworten. Da fehlt überhaupt nichts. Ich vermisse nichts. Es ist endlich so, wie es immer hätte sein sollen. Dieses Gefühl ist vielleicht das, was die Bekannte mit „angekommen“ meint.

Dennoch fühle ich mich als Ganzes noch nicht angekommen, aber auf einem guten Weg. Dafür gibt es einfach noch zu viele „Baustellen“. Meine Haare, mein Bart, meine Stimme, meine Brüste, mein Gesicht. Die GaOP war sicherlich die größte aller medizinischen Maßnahmen, aber dennoch erst der Beginn der körperlichen Reise in Richtung „angekommen sein“. Die jetzige Erfahrung nach der GaOP bestärkt mich darin, auf dem richtigen Weg zu sein. Das ist (weiterhin) alles total stimmig und jeder kleine Schritt bringt Erleichterung und lässt mich mehr und mehr bei mir selbst ankommen. Körperlich, aber auch durchaus mental. Denn wie ich schon früher schrieb, ist die Transition mindestens zu 50% ein Veränderungsprozess der Psyche. Wahrscheinlich sogar deutlich mehr. Die körperlichen Veränderungen sind nur Ausdruck dessen und damit eher als die Spitze des Eisbergs zu betrachten.

Der erste Abend alleine

Doch gehen wir nochmal einen Schritt zurück zum gestrigen Abend.
Viel schaffte ich an diesem Abend dann nicht mehr. Wir aßen noch gemeinsam zu Abend, ich räumte die wichtigsten Dinge aus meinem Koffer und richtete mich für die Bougierroutine ein. Einmal erschrak ich kurz, denn nach einem Toilettengang kam frisches Blut aus einer Wunde. Oh nein! Hatte ich mich mit der Reise doch übernommen und nicht genug Rücksicht genommen? Was bedeutete das jetzt? Nach kurzer Untersuchung stellte ich fest, dass das Blut offenbar von der Wunde einer der großen Vulvalippen stammte, also nichts innerliches war. Eine spätere Kontrolle zeigte zum Glück, dass die Blutung unmittelbar wieder aufgehört hatte, das beruhigte mich. Es zeigte aber sehr deutlich, wo meine aktuellen Grenzen sind. Insofern ließ ich die restlichen Klamotten da wo sie waren und legte mich ins Bett. Bis heute morgen.

Heute geht es mir wieder besser, die Erschöpfung von der Reise ist einigermaßen überwunden und ich hatte genug Kraft, um meinen Haushalt wieder halbwegs auf Vordermann zu bringen und mich wieder einzurichten. Damit soll es das für heute aber auch schon gewesen sein, das war genug Anstrengung für heute.

Tja…nun bin ich vorerst auf mich allein gestellt. Medizinisch betrachtet. Kommende Woche folgt ein erster Kontrolltermin beim Gynäkologen…ob ich bis dahin schon die 30 Minuten selbst mit dem Auto werde fahren können, wird sich zeigen. Aktuell muss ich mir meine Kräfte jedenfalls sehr gut einteilen und selbst das Sitzen auf meinem Sitzring geht nur für eine begrenzte Zeit.

Für die kommenden Tage steht jedenfalls der ein oder andere kurze Spaziergang durch den hiesigen Wald auf dem Programm. Waldbaden soll ja gesund sein. 😉

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