Eine Lektion in Demut

Dahlia

Der heutige Tag hat vieles auf den Kopf gestellt und mich mehrfach mit neuen Perspektiven in Bezug auf meinen gestrigen Beitrag konfrontiert. Ich bleibe mit offenem Mund staunend zurück.

War ich gestern wütend auf das Leben, auf das Universum? Ja.
War ich gestern so niedergeschlagen und müde wie nie zuvor? Ja.

Und so sehr ich auf das Universum geschimpft habe, so demütig und ein wenig beschämt muss ich heute Abend mein Haupt vor ihm neigen. Denn aus dem gestrigen Beitrag und damit verbundenen Posts in meinen Social Media Profilen sind etliche Reaktionen erwachsen, die mehrheitlich auf ein Wort reduziert werden können:

Loslassen.

Was ist also passiert?

Schon ein erstes Gespräch mit meiner Mama am frühen Abend legte den Grundstein dessen, was während der abendlichen Gruppentherapiesitzung und einer Nachricht einer Bekannten seinen Höhepunkt finden sollte. Meine Mama und ich kamen unter anderem auf meine Stimme zu sprechen. Das, was ich als vollkommen unweiblich und störend an mir wahrnehme, stört sie nicht die Bohne. Andere Dinge wie Bart und dünnes Haupthaar spielen da eine viel größere Rolle. Interessanterweise bestätigte eine Bekannte später genau das: meine Stimme sei vollkommen ok und sollte wenn überhaupt zum Schluss kommen. Das gibt mir zu denken.

Sollte ich also von meinem hohen Leistungsanspruch an meine Stimme vorerst Abstand nehmen?

Und genau bei dieser Frage kommen mein Therapeut und eine lebhafte Diskussion in der Gruppe über Logopädie, eigene Ansprüche und neue Perspektiven ins Spiel. In der Gruppe (und darüber hinaus) scheint mein hoher Leistungsanspruch an mich selbst wohl recht offensichtlich zu sein. Dass ich mir gerade in Punkto Stimme selbst Stress mache, wusste ich schon. Ich habe nur bis heute keinen Weg gefunden, davon weg zu kommen. Mein Therapeut griff diesen Punkt aber auf und spiegelte mir genau das. Dass er mich so wahrnehme, dass ich mit High Speed die Themen angehen würde. Stimmt. Ich gehe da halt organisiert dran und wenn es sich richtig anfühlt, erledige ich Dinge. Warum sollte ich warten? Ich habe lange genug gewartet.

Bei der Logopädie ist mir das jedoch zum Verhängnis geworden. Wie ich gestern schrieb, funktionieren meine alten Werkzeuge nicht mehr. Es kann SO nicht damit weitergehen. Es ist Zeit, einige Schritte zurückzutreten und das Ganze aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Nicht meine Worte, aber sie ergeben Sinn für mich. Zurücktreten und…loslassen.

Klar. Auch ich habe schon diese Momente erlebt, wo Dinge plötzlich wie von selbst liefen, sobald ich meinen Fokus von ihnen nahm, sie losließ und mich anderen Dingen zuwendete.

Und genau das war der Rat, die Kern-Message dieses Therapieabends: “Lassen Sie los!”

Interessanterweise hat meine Logopädin gestern quasi schon einen Schritt in genau diese Richtung unternommen: indem sie mit mir zurück an den Anfang ging, nahm sie mir die Last von den Schultern, die schwierigen Übungen zu absolvieren und daran wieder und wieder zu scheitern. Ich packte die Unterlagen noch gestern in meinen Schrank und darf sie jetzt für die nächste Zeit…loslassen.

Demut

Doch warum macht mich das alles demütig und beschämt?

Naja, ich komme mir nach dem gestrigen Abend und den heutigen Eindrücken doch recht dumm vor, nicht zuletzt weil es mir seit der Gruppentherapie um Welten besser geht. Da schäme ich mich schon ein Stück, gestern so sehr “Drama Queen” gewesen zu sein. Dabei meine ich die Drama Queen nicht despektierlich. Ich stehe zu meinen Gedanken und Gefühlen von gestern, sie waren real. Aber ich war so gefangen in mir selbst, dass ich lieber gegen meine eigenen Schatten gekämpft habe, anstatt das alles aus einer anderen Perspektive betrachten zu können.

Als Mensch, der sich selbst doch für halbwegs reflektiert hält, war das gestern keine Glanzleistung. Mit dem heutigen Tag leerte mich das Universum wieder Demut.

Irgendwo las ich mal vor Jahren, dass das Universum immer für mich sorgt und mir das schenkt, was ich gerade brauche. Vielleicht musste ich auch einfach vor diese Wand laufen, um heute überhaupt verstehen zu können, was ich mir da die ganze Zeit selbst angetan habe.

Ich möchte jedoch betonen, dass die ständige Präsenz der Transition keineswegs verschwunden ist, nur weil ich heute lehrreiche Gespräche hatte. Aber ich kann es nach dem heutigen Tag wieder besser (er-)tragen.

Fassaden

Ich möchte noch auf einen Kommentar auf den gestrigen Beitrag eingehen, in dem es um die angesprochenen Fassaden geht.

Ich denke auch, dass die meisten Menschen aus den verschiedensten Gründen mit Fassaden durch’s Leben gehen. Überwiegend um sich zu schützen, möchte ich behaupten.

Um diesem Leiden ein Ende zu bereiten, sei du Selbst und verzichte auf die Fassade.

Klingt total plausibel. Es gibt da nur einige Punkte, die dem Ganzen entgegenstehen und die mich davon abhalten, auf eine Fassade zu verzichten:

Zunächst einmal müsste ich wissen, wer ich denn jetzt überhaupt bin. Wie sieht mein Selbst überhaupt aus? Das wusste ich schon früher nicht, seit der Transition weiß ich das noch viel weniger, denn die Suche nach Antworten warf noch mehr Fragen auf und die letzten Tage und Wochen, geprägt von vermeintlich hormonbedingten Stimmungsschwankungen ließen mich dann und wann doch ernsthaft an meiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln. Wer bin ich denn nun? Die Frau, die stolz zu sich steht und entschlossen ihren Weg geht? Oder die Frau, die ihr gesamtes Leben in Frage stellt? Oder bin ich beides? Aber wie passt das zusammen? Das widerspricht sich doch eigentlich, oder wie oder was?

Oder ist mein Selbst genau das im Augenblick? Ein schwankendes Schiff auf einem tobenden Ozean, durch den ich erst hindurch segeln muss, um in ruhige Gewässer zu kommen? Jeden Tag auf’s Neue hin und her geworfen oder sicher stehend am Steuerrad. Ich bin das Mädchen, das überwältigt von den eigenen Emotionen durch die Pubertät stolpert, ohne einen Plan, was mal werden wird und gleichzeitig schon einmal vom Nektar von 40 Jahren Lebenserfahrung kosten durfte. Eine ziemlich wilde Mischung.

Ja, ich merke schon, in welche Richtung ich gezogen werde. Die hat sich seit Beginn der Transition nicht verändert. Doch der Leuchtturm wurde recht oft von den hohen Wellen verdeckt und verschwand zeitweise außer Sicht.

Aber nehmen wir mal an, ich sei all dies und trete gänzlich ohne Fassade in diese Welt. In eine Welt, in der Transmenschen öffentlich beleidigt, beschlagen und gar ermordet werden. Gehe ich da wirklich ungeschminkt, mit schütterem Haar und Minirock in die Stadt?! Wenn ich verachtet und beleidigt werden möchte: ja. Sonst wohl kaum.

Will ich gefallen? Ja, natürlich will ich das. Wer will das nicht? Doch das müssen keine verliebten Blicke der Männer sein, mir reicht es völlig, im Alltag als Frau gelesen zu werden, ohne Gefahr zu laufen, von marodierenden Jugendlichen zusammengeschlagen zu werden, weil ich nicht in ihr engstirniges Weltbild passe.

An dieser Stelle müssen wir der Realität leider ins Auge blicken: Deutschland ist großflächig transfeindlich. Nicht in meinem näheren Umfeld, aber im Querschnitt der Bevölkerung. Vor 80 Jahren wurden Menschen umgebracht, nur weil sie sie selbst sein wollten.

Ohne Fassade bin ich all den Höhlenmenschen da draußen schutzlos ausgeliefert.

Ich gebe diesen Menschen nicht die Schuld für ihre Intoleranz, sie wissen es einfach nicht besser. Dennoch ist es meine Entscheidung, für meine persönliche Sicherheit und mein allgemeines Wohlergehen zu sorgen.

Wünsche ich mir, dass ich diese Fassade eines Tages fallen lassen kann? Natürlich. Genau darum geht es ja hier: der Schmetterling zu werden, der aktuell noch sehr schutzbedürftig in seinem Kokon hockt. Und wäre der Kokon nicht, würde der zarte Schmetterling einfach eingehen.

Wäre diese Welt transfreundlich, würden wir auf der Straße Transfrauen mit Bärten sehen, da sie ihn gerade für die nächste Nadelepilation wachsen lassen müssen. Wir sähen Transmänner ohne schmerzhaft abgebundene Brust. Wir sähen kleine Kinder in Kleidern, obwohl ihnen bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde. Wir Transgender könnten einfach unseren Namen und Personenstand beim Bürgerbüro ändern, ohne erniedrigende und teure Gerichtsverfahren über uns ergehen zu lassen, in denen wir beweisen müssen, dass wir sind wer wir sind. Wir würden eine in Regenbogenfarben erleuchtete Allianz Arena sehen, wann immer uns danach ist. Menschen würden beim ersten Kennenlernen zu aller erst nach dem gewünschten Pronomen fragen, weil das als respektvoll dem Gesprächspartner gegenüber empfunden würde…

Doch das sind alles Wunschvorstellungen. Genau wie die, in näherer Zukunft meine weibliche Stimme zu finden oder ungeschminkt in die Öffentlichkeit zu gehen.

Sollte ich diese Vorstellungen daher für den Moment loslassen, weil sie mir nicht gut tun? Vermutlich.

Brauche ich so lange noch einen schützenden Kokon, eine Fassade? Davon bin ich überzeugt.

Sollte ich dennoch weiterhin dafür kämpfen? Auf jeden Fall! Sobald es mir wieder schnuppe ist, vom Universum erneut zu Boden gerungen zu werden…

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One Thought to “Eine Lektion in Demut”

  1. Ute Graefe

    Liebe Julia!
    Ich kann deine Gedanken und Gefühle voll und ganz nachvollziehen.
    Wunderbarerweise hat sich dein Ansatz bereits erweitert! Zum Bild der Fassade ist das Bild des Kokons hinzugekommen.
    Eine Fassade verschleiert die Wirklichkeit, täuscht vor.
    Der Kokon ist ein natürlicher Schutz.
    Kein Kokon sieht aus wie der zukünftige Schmetterling. Er hat seine eigene Schönheit und ist dabei eher unauffällig.
    Vielleicht hilft dir diese Trennschärfe der Begriffe ja weiter!?
    Schutz: ja!
    „Täuschung“: nein.
    Mit dem Schutz meine ich nicht sich zu verstecken! Die Phase des Kokons ist notwendig und hat ihre Berechtigung und damit ganz eigene Spielregeln.

    Wenn du dich also wie bisher morgens für den Tag vorbereitest, erwarte vom Blick in den Spiegel (noch) keinen Schmetterling, sondern zunächst den Kokon.

    Hab einen guten Start in den Tag!
    Ute

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