Schwangere, Linea nigra

Ich komme mir schon geraume Zeit vor wie ein Computer, dessen Prozessor auf 100% Auslastung läuft, für den Benutzer aber äußerlich keinerlei Aktivität erkennbar ist. Einen kleinen „Beweis“ für dieses Gefühls zeigt mir seit Kurzem mein Körper sogar auf optische Weise.

Wie dem Titelbild und der Überschrift dieses Artikels schon zu entnehmen ist, hat diese optische Veränderung diesmal nichts mit Brustwachstum oder sonstigem zu tun, nein. Auch wenn das auf schmerzhafte (aber erträgliche) Weise voranschreitet. Seit wenigen Tagen beobachte ich eine Hautveränderung an meinem Bauch. Zunächst hielt ich sie für eine Art Abdruck durch meine Kleidung, doch stellt sich raus: das ist nicht der Fall. Das, was sich dort gebildet hat und noch weiter bildet ist die sogenannte Linea Nigra, eine dunkel pigmentierte Linie auf der Haut zwischen Bauchnabel und Genitalbereich. Bisher kannte ich diese Hautverfärbung lediglich von schwangeren Frauen, umso überraschter war ich, als ich dieses Phänomen an mir selbst beobachtete.

Da ich seitens der Natur nun mal leider nicht mit entsprechenden Organen für eine Schwangerschaft ausgestattet wurde, erschien mir das doch alles recht sonderbar und ich recherchierte.
Ein schneller Blick bei Google brachte dann schon Klarheit: die Linea Nigra entsteht vor allem in der Schwangerschaft durch einen erhöhten Hormonspiegel, unter anderem Östrogen. Wikipedia sagt dazu folgendes:

 Als Ursache dieser Verfärbung gilt die erhöhte Produktion des melanozyten-stimulierenden Hormons. (…) Die Linea Nigra entsteht, wenn sich die Linea alba (lateinisch für „weiße Linie“), eine bei jedem Menschen normalerweise nicht sichtbare Bindegewebsnaht in der Mitte des Bauches, durch diese Pigmentstörung dunkel verfärbt. 
Quelle: Linea nigra – Wikipedia

Heißt also: offenbar geht mein Östrogenspiegel aktuell durch die Decke. Ein Umstand, der möglicherweise auch andere Symptome der vergangenen Tage erklären kann. Ich berichtete ja von PMS-ähnlichen Empfindungen. Hinzu kamen speziell an den letzten beiden Abenden teils massive Stimmungsschwankungen und Selbstzweifel. Zweifel daran, ob ich das Richtige tue. Ob ich mir das nicht alles nur einrede und ob es mir nach der Transition überhaupt besser gehen wird. Ob es das alles wert ist. Ob ich das überhaupt alles hinbekomme. Ob ich nicht einfach alles hinschmeißen soll. Selbst oberflächliche suizidale Gedanken sickerten vereinzelt in mein Bewusstsein, getragen von einem „Ich kann nicht mehr, ich will das alles nicht mehr!“ Aber nein! Suizid war niemals und ist auch heute sowas von keine Option für mich! Überhaupt nicht! Dennoch sind diese Gedanken da und sie einfach zu unterdrücken halte ich ebenfalls für falsch, denn sie wollen mir offenkundig etwas mitteilen und sind Ausdruck von etwas. Ich glaube, der passende Ausdruck hier lautet „Verzweiflung“ in Kombination mit einer richtig krassen Gender Dysphorie. Ich las viel darüber von anderen Betroffenen. Das ist leider verbreiteter, als man es unter den fröhlich-bunten Fahnen vermuten würde.

Maßgeblich zum Absacken meiner Stimmung trugen auch (mal wieder) meine Logopädieübungen gestern bei, denn sie scheiterten episch. Meine kürzliche Selbsteinschätzung, dass durch die 2 Wochen ohne Übung kaum etwas verloren gegangen sei, war offenkundig vollkommen falsch! Richtig, richtig falsch!
Ich hörte mir meine Samples an. Und…mir wurde übel. Ein Kloß verschloss meinen Hals. Ich wurde wütend auf mich selbst, schrie in mein Kopfkissen, bis mein Hals wehtat. Und doch hatte mein Körper kaum noch Tränen übrig, um dieses Gefühlschaos angemessen auszudrücken. Wenn ich nach der Mittagspause nicht noch hätte arbeiten müssen, hätte ich die Nutzung meiner Stimme für den Rest des Tages verweigert. Ja, so langsam beginne ich zu verstehen, warum manche Menschen schlicht aufhören zu sprechen. Welche psychischen Mechanismen da vielleicht hinter stecken. It’s doing more harm than good.

Doch zurück zum offenkundig hohen Östrogenspiegel (den ich mir by the way nicht erklären kann, da sich meine Dosierung nicht geändert hat). Suche ich im Netz nach Nebenwirkungen von zu viel Östrogen, finde ich eine Liste, die ich – wenig überraschend – zu großen Teilen für mich bestätigen kann:

  • prämenstruelles Syndrom (PMS) wie Reizbarkeit und Brustspannen – CHECK!
  • Wassereinlagerungen, z. B. Beine, Hände, Füße, Gesicht
  • Gewichtszunahme – CHECK!
  • Stimmungsschwankungen und Depressionen – CHECK!
  • schmerzhafte Periode – CHECK! 
  • lange Periode
  • Kopfschmerzen – CHECK!
  • unerfüllter Kinderwunsch
  • Schwindel – CHECK!
  • Konzentrationsprobleme – CHECK!
  • Libidoverlust – CHECK!
  • Trockene Haut und Schleimhäute – CHECK!
  • verstärkte Wechseljahrsbeschwerden
  • Schlafstörungen – CHECK!
  • Hitzewallungen – CHECK!
  • Myome
  • Endometriose
  • Gedächtnisprobleme – CHECK!

Heute, jetzt gerade, geht es mir glücklicherweise erstaunlich gut, obwohl ich viel zu kurz und schlecht geschlafen habe (siehe oben: Schlafstörungen). Keine nennenswerten Selbstzweifel, keine krassen Stimmungsschwankungen. Nach den Erfahrungen gestern kann sich das aber schlagartig ändern, sobald ich mich an die Logopädieübungen mache. Sollten diese wieder ein Reinfall werden, befürchte ich erneut eine heftige emotionale Reaktion. Aber auch umgekehrt: sollten sie heute klappen, wird mir das einen positiven Schub geben. Oh, dear! 

Ich muss gestehen, aktuell finde ich diese hohe emotionale Sensibilität über alle Maßen anstrengend. Es gewisse Tendenz, mich von derlei äußerlichen Faktoren beeinflussen zu lassen, hatte ich ja schon immer (worauf ich nicht sonderlich stolz bin), aktuell ist dieser Reaktion aber gefühlt um das 100-fache verstärkt.

Und all das zusammen, wie gesagt, fühlt sich an wie ein Computer, der unter Volllast läuft. Es gab in den letzten Tagen vermehrt Momente, da habe ich mir gewünscht, einfach für eine lange Zeit zu schlafen und erst wieder wach zu werden, wenn diese ganzen inneren Prozesse abgeschlossen sind und mein Körper wieder freie Energien hat und mit sich selbst klarkommt. Aktuell ist das überhaupt nicht der Fall und offen gestanden weiß ich auch nicht, was ich dagegen tun kann, außer mir und meinem Körper Ruhe für seine Aufgaben zu gönnen. Ruhe vor der Welt und Ruhe vor meinen eigenen inneren „Geräuschen“, Gedanken und Gefühlen. Nicht zuletzt deshalb schränke ich meine sozialen Kontakte noch mehr ein, als ich es ohnehin schon immer getan habe. Ich schrieb ja schon früher, dass mich menschliche Kontakte anstrengen und mir Energie rauben. Ein wissenschaftlich bekanntes Phänomen. Aber auch hier: im Augenblick 100-fach verstärkt. Das tut mir leid für all die lieben Menschen, zu denen ich sonst Kontakt habe und die sich vielleicht sogar Sorgen machen. Aber es geht gerade einfach nicht.

Bleibt zunächst nur, das alles so hinzunehmen und auf die Bedürfnisse meines Körpers zu hören. Nur gut, dass ich kommende Woche meinen nächsten Kontrolltermin für die HRT habe und den Hormonlevel prüfen lassen kann…

Update #1

Die Logopädieübungen waren nicht gut, das emotionale Tief ist aber zum Glück ausgeblieben.

Update #2

Ich habe „zufällig“ zwei schöne Textstücke gefunden, die mir in meiner aktuellen Verfassung geholfen haben:

Be thankful for the struggles

Gefunden bei Reddit – es beschreibt genau meine Gefühle und Gedanken, die immer wieder auftreten. Und offenbar geht es fast ALLEN Transgendern von Zeit zu Zeit so…

Reddit post

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