Es war ja schon absehbar, dass dieser Tag näher rücken würde. Der Tag, an dem ich meinen Outing-Brief an meine unter mir wohnenden Vermieter schreiben würde. Heute war es so weit.

(Anm. d. A.: Die Namen der angesprochenen Personen sind wie immer in diesen Artikeln verfremdet.)

Liebe Frau Müller, lieber Herr Müller,

ich wende mich heute mit einem sehr persönlichen Thema an Sie, mit dem ich sehr offen und transparent umgehen möchte und hoffe, diesbezüglich nicht mit der Tür ins Haus zu fallen. Da mir dieses Thema jedoch unbeschreiblich wichtig ist und mein Umfeld auch direkt oder indirekt davon betroffen ist, halte ich es für notwendig und angemessen, Sie als Teil meiner geschätzten Mitmenschen mit ins Boot zu holen.

Nun, ich spanne den thematischen Rahmen für den Einstieg bewusst etwas weiter und fange mit Corona an:

Die Corona-Zeit hat vieles in dieser Welt verändert, so auch die Art und Weise, wie wir bei uns in der Firma arbeiten. Vermehrtes HomeOffice veränderte unser Verständnis von Zusammenarbeit, führte aber auch zu einer erhöhten Arbeitslast, nicht zuletzt da Privat- und Berufsleben immer mehr verschwimmen. Diese Arbeitslast hat sich in meinem persönlichen Fall so stark verdichtet, dass ich mich Anfang Juni für gut 2 Wochen krankschreiben lassen musste.

In dieser Auszeit hatte ich reichlich Gelegenheit, meine Situation und mich selbst als Ganzes zu reflektieren. Neben Überlegungen zu einem Jobwechsel (der aber vom Tisch ist) trat ein weitaus bedeutsameres Thema auf den Plan, das ich mein Leben lang aus Scham und Angst vor vermeintlichen Konsequenzen unterdrückt hatte.

Schon mein Leben lang bin ich mal mehr, mal weniger auf der Suche nach mir selbst – meiner Identität.

Und so befasste ich mich auch in dieser Zeit sehr intensiv mit meiner Identität. Genauer gesagt, durch einen in letzter Zeit stark gestiegenen Leidensdruck mit meiner Geschlechtsidentität. Denn in dieser war ich mir Zeit meines Lebens nie sicher. Stattdessen fühlte ich mich immer irgendwie „falsch“, wusste aber nie warum.

Nach einem beschämten Anfangsverdacht recherchierte ich viel und kam im Laufe des Juni zu einer mein Leben vollständig auf den Kopf stellenden Erkenntnis: ich bin transident.

Umgangssprachlich ist dies auch bekannt als „transsexuell“ – dieser Begriff ist jedoch irreführend, da es dabei in keiner Weise um eine sexuelle Orientierung geht, sondern rein um die eigene Identität, die Wahrnehmung des eigenen Geschlechts.

Für mich persönlich bedeutet das, dass ich zwar in einem männlichen Körper geboren wurde und bisher gelebt habe, mich jedoch als Frau fühle und zurückblickend mein ganzes Leben lang fühlte. Eine zugegeben sehr schmerzhafte Erkenntnis.

Wie bereits oben erwähnt, habe ich dieses Thema mein Leben lang unter großem (unbewussten) Druck und Leid vor der Welt und vor mir selbst versteckt. Doch jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, diesem Leid ein Ende zu bereiten und zu mir selbst zu stehen. Endlich. Ein schlauer Mensch sagte einmal: „Wo das Leid zu groß wird, wird Mut geboren.“

Heute bin ich mutig genug, Ihnen diesen elementaren Teil meiner Selbst zu offenbaren und anzuvertrauen.

Es liegen nun fast zwei Monate voller Recherchen, Selbsterkenntnisse, schmerzhafter Selbstzweifel, Tränen der Erleichterung und der Trauer und Angst vor der Zukunft hinter mir. Dank liebevoller Unterstützung meiner Ex-Freundin und speziell auch meiner Mutter bin ich mir meines Weges mittlerweile sehr sicher. Dennoch stehe ich noch ziemlich am Anfang dieser jahrelangen Reise. Aus heutiger Sicht beabsichtige ich, Schritt für Schritt eine komplette Geschlechtsangleichung vornehmen zu lassen, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Für den Augenblick steht jedoch neben der Selbstakzeptanz, der Aufklärung meines Umfeldes noch der Beginn einer professionellen, begleitenden Therapie an erster Stelle.

Ein Teil meines Weges und der Therapie ist natürlich auch, die neue Geschlechtsidentität Schritt für Schritt mehr im Alltag zu leben, bevor es später zu einem vollständigen Wechsel kommen kann. Dazu gehört selbstverständlich auch entsprechende Kleidung. Insofern hoffe ich, Sie bei Gelegenheit nicht zu sehr zu irritieren, sollte statt des bisher bekannten männlichen Outfits ein weibliches an Ihrer Haustür vorbei marschieren.

Ich kann mir vorstellen, dass dieser Brief und dieses Outing für Sie sehr überraschend und vielleicht sogar überwältigend oder irritierend sind und viele Fragen aufwerfen. Daher möchte ich an dieser Stelle noch einmal bekräftigen, dass ich meinen Mitmenschen – und damit natürlich Ihnen im Speziellen – mit Offenheit zu diesem Thema begegnen möchte und bin stets zu Gesprächen oder Fragen bereit.

In der Tat war dies das größte und bestgehütete Geheimnis in meinem Leben – doch jetzt bin ich frei. Ich habe nichts mehr zu verstecken.

Ich lade Sie also herzlich zu einem Dialog ein, wann immer Sie das Bedürfnis danach verspüren sollten.

Herzliche Grüße!

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