Ein bisschen für immer

Road to nowhere

Dieser Artikel wird kein Kinderspiel, kein Convenience-Produkt. Trigger-Warnung. Es geht um ein Thema, um das ich mich gerne herumdrücke, das aber zwangsläufig zu unser aller Existenz gehört. Es geht um das Sterben. Es geht aber auch um das Leben. Und alles dazwischen. Schock. Verdrängung. Trauer. Wut. Akzeptanz. Loslassen. Liebe. Und um die Essenz dessen, was wirklich wichtig ist.

Ihr Lieben,

im Augenblick schaue ich aus der offenen Terrassentür in den grünen Garten. Vom Duschen nasse Handtücher wehen auf der Wäschespinne im leichten Wind. Puffige Wolken in verschiedenen Grautönen ziehen behäbig über den Himmel, während im Nachbargarten einige Kinder fröhlich rufen. Die Szenerie wirkt friedlich und entspannt, wie ein angenehmer Sommertag im Süden Englands.

Doch das, was da draußen vor sich geht, steht in skurrilem Kontrast zu dem, was hier im Haus geschieht. Die Welt da draußen dreht sich, wie sie es immer tut, während sie hier drinnen von Tag zu Tag langsamer zu werden scheint. Bis sie eines Tages gänzlich stehen bleiben wird. Und dass ich hier am Küchentisch sitze, der mit zahlreichen Medikamenten dekoriert ist, ist kein Zufall. „Es wäre gut, wenn ihr herkommt“, schrieb mir meine Mutter. Denn ein ungewöhnlich aggressiver Tumor hat sich dem Körper meiner Schwester bemächtigt, das wusste ich. Doch er wuchs rasant und scheinbar unaufhaltsam. „Wir wissen nicht, wie lange sie noch hat“, schob meine Mutter nach.

“Es wäre gut, wenn ihr herkommt.”

Dieser Satz hallte in meinem Kopf nach, während ich noch daheim auf meinem Bett saß, das Handy in der Hand. Pochen im Kopf, das Blut rauschte in meinen Ohren. Sonst war es still. Totenstill. Bitterlich geweint hatte ich schon früher. Nach der ersten Diagnose. Und auch in den vergangenen Tagen, als die schlechten Nachrichten beinahe täglich eintrafen. All das in einer Zeit, in der ich eigentlich mit meinen Töchtern schöne und erholsame Sommerferien hatte verbringen wollen. Stattdessen fühlte ich mich, als würde das Leben wie ein Film an mir vorbeirauschen, außerstande, Freude zu empfinden oder mich zu Dingen zu motivieren. Ich weinte in den Armen meines Partners, rollte mich auf dem Bett ein wie eine Katze im Winter vor der Heizung, raffte mich aber dennoch immer wieder auf, trotz allem vor die Tür zu gehen. Denn ich erkannte, dass die nächste Depression mit offenen Armen und schief grinsend im Türrahmen stand. Nicht nochmal!

Es wäre gut, wenn ihr herkommt“, ging mir wieder durch den Kopf. Dieser schlichte Satz stellte alles auf den Kopf. Würde ich es ertragen können, vor Ort zu sein und Tag für Tag das Leid mitzuerleben? Würde ich es bereuen, wenn ich es nicht täte? Meine beste Freundin sorgte letztlich für den Ausschlag, alle Pläne daheim über den Haufen zu werfen und stattdessen Flugtickets zu buchen. Hals über Kopf wurden Dinge wegorganisiert, Menschen informiert, Koffer gepackt. Und schon saßen wir, mein Vater und ich, im Flieger Richtung London. Einen Tag, bevor Klimaaktivisten sich auf das Rollfeld kleben würden – eine Randnotiz.

Die Unplanbarkeit des Seins

Nach der Ankunft saßen wir alle gemeinsam im Garten, die zarte Sonne des englischen Sommers im Gesicht. Bei aller Trauer wirkte dieser Moment irgendwie auch friedlich. So wie jetzt. Dramatischer, toxischer, richtig beschissener Frieden. Ein Moment, indem die Natur ihre unerbittliche Seite zeigt und das Haus dennoch von Stille erfüllt ist.

Weiterhin wabert die Welt an uns vorbei, während die Küchenuhr leise vor sich hin tickt. Sekunde um Sekunde, unaufhaltsam. Es ist viel Warterei. Unsicherheit darüber, was als Nächstes folgen könnte. Meine jahrelange Auseinandersetzung mit Agilität und der zugrunde liegenden Denkweise helfen mir dabei, von Tag zu Tag zu schauen und damit umzugehen, Dinge nicht planen zu können. Es ist nicht schön, nein. Ehrlich gesagt, ist es mit das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann. Zu wissen, irgendwann in naher Zukunft einen geliebten Menschen zu verlieren, der viele Spuren in meinem Leben hinterlässt, zerreißt mich jeden Tag aufs Neue.

Aber auf eine perfide Art und Weise ist es okay, denn wir sind hier. Alle gemeinsam. Wir reden viel. Und weinen. Schließen offene Gestalten, wie meine Schwester es im Sinne der Gestalttherapie ausdrückt. “Schließen unerledigte Kapitel ab“, würde ich es nennen. Viel altes Zeug. Familienthemen, wie jede Familie sie auf die eine oder andere Art hat. Erinnerungen kommen empor, vor allem schöne. Manchmal bedauern wir Dinge und sprechen offen die Dinge aus, die es noch zu sagen gibt. Ich denke, sowas nennt man im Allgemeinen “Loslassen”. Das ist sehr schmerzhaft, aber irgendwie tut es auch gut und erleichtert. Die unerledigten Dinge werden weniger, wobei einige davon unerfüllte Träume bleiben werden. Machu Picchu. Blühende Gärten, die einst mit viel Liebe angelegt wurden und noch Zeit zum Wachsen brauchen.

Zeit

Diese Zeit rinnt uns durch die Hände und zieht sich manchmal doch so zäh wie Kaugummi. Wenn man im Rettungswegen sitzt und über die Straßen Hampshires holpert. Wenn man im Behandlungszimmer der Notaufnahme eine Stecknadel fallen hören könnte, während man auf die Blutergebnisse wartet und draußen vor der Tür eine Patientin unkontrolliert zu Boden sinkt. Schrillende Alarme, nervtötendes Piepen irgendwelcher Geräte. Ist das die unantastbare Würde des Menschen, von der immer alle sprechen? Krebs hält sich nicht an Grundgesetze. Krebs zerstört ohne Rücksicht auf Verluste. Krebs nimmt, was er kriegen kann. Krebs ist ein riesiges Arschloch! Und Versuche, ihn in seine Schranken zu weisen, scheitern episch, während Ärzte betroffen und schulterzuckend daneben stehen. Gegen diesen Feind ist scheinbar kein Kraut gewachsen. Der Mensch vermag heute vielleicht schon, diesen Planeten zu zerstören – diese Krankheit zu heilen, übersteigt leider oft genug seine Fähigkeiten.

Abschied

Mir graut vor dem Moment des Rückflugs, wann auch immer der sein wird. Wir haben ihn bereits verschoben, denn wir wollen noch so viel Zeit wie möglich gemeinsam verbringen. Mein Bauchgefühl und auch die täglich schlimmer werdenden Hiobsbotschaften sagen mir: es ist ein Abschied auf Raten. Kein gewöhnlicher, sondern der aller schwerste, den ich in meinem Leben erlebt habe. Ich mag keine Abschiede. Mochte ich noch nie. Und diesen hier am aller wenigsten. Zwangsläufig kommen mir alte Erinnerungen in den Kopf, wenn ich die Kinder draußen spielen höre. Bilder, die in alten Fotoalben kleben, mit Spinnenpapier getrennt. Bilder aus besseren Tagen als diesen hier.

Und mir kommen wieder die Tränen. Aus vielerlei Gründen, einer davon ist diese verdammte Hilflosigkeit. Ich kann da sein, Anteil nehmen, im Haushalt helfen, zuhören, reden. Aber wirklich helfen kann ich nicht. Als stünden wir auf einem Floß, das unweigerlich auf einen Wasserfall zusteuert. Außerstande, es irgendwie aufzuhalten. Dieses Gefühl des Unvermeidlichen, gepaart mit einem letzten Funken Hoffnung auf ein riesiges Wunder – wobei dieser Funke sich langsam wandelt, einfach nur zu hoffen, dass das Leid möglichst gering sein möge. Es zerreißt mich innerlich an manchen Tagen. Obwohl es mir dennoch den Umständen entsprechend „gut“ geht.

Was wirklich wichtig ist

Jeden Tag stehen wir auf, frühstücken und schauen, was der Tag bringen wird. Ich arbeite seit ein paar Tagen wieder, mein Urlaub war kein Stück erholsam, geendet hat er dennoch. Die Welt da draußen dreht sich eben weiter. Hier dreht sie sich langsamer und das macht demütig. Es richtet den Scheinwerfer auf das, was wirklich wichtig ist. Viele Alltäglichkeiten verblassen und werden unwichtig. Gemeinsame Zeit, Gespräche, Frieden, Ruhe und Dasein werden zur Essenz dessen, was wirklich wichtig ist. Es sind manchmal nur Momente. Einzelne Worte oder Blicke. Aber sie sind wichtig. Für den Abschied, ihr wisst schon.

Es ist die Zeit des Aussprechens. Und genauso ist es viel zu oft die Zeit der Sprachlosigkeit, weil eigentlich schon alles gesagt ist. Antworten auf die Fragen, warum das alles geschieht, sind müßig und dennoch allzu natürlich. Der Sinn des Lebens offenbart sich an manchen Tagen, an anderen versteckt er sich und es lässt uns schulterzuckend zurück.

Man sagt das immer so flapsig: ohne die Gesundheit ist alles andere egal. Nie habe ich dessen tiefe Wahrheit deutlicher gespürt als jetzt. Doch selbst in Krankheit und Tod gibt es Dinge, auf die es wirklich ankommt:

Füreinander da sein.
Dinge klären und nicht auf die lange Bank schieben. Irgendwann könnte es zu spät sein.
Aussprechen, wie wichtig man einander ist und was man am anderen schätzt.
Erkennen, welche Spuren ein Mensch in unserem Leben hinterlässt.
An einem Strang ziehen und sich gegenseitig stützen.
Und noch so viel mehr…

Was am Ende bleibt

Wir haben viel darüber gesprochen, was am Ende bleibt. Welche Spuren hinterlässt meine Schwester, wenn wir sie eines Tages werden gehen lassen müssen? Neben all den Dingen, an denen sie gearbeitet hat, ist es ein Wort, das mir spontan als Essenz in den Sinn kommt:

Liebe.

Sie hat mit so viel Liebe Dinge bewegt und Positives in die Welt gebracht. Und selbst mit dünner Stimme und erschöpft im Sessel sitzend tut sie das jetzt noch. Sie war und ist meine große Schwester, mein Vorbild in vielen Dingen. Wie gerne denke ich daran zurück, wie wir zum Bäcker laufend von Stein zu Stein sprangen und “Die Zwischenräume sind Lava” spielten. Oder wie sie mich aus Spaß auf den Arm nahm, um so tun, als würde sie mich in den Teich zu werfen. All die Gespräche über menschliche Beziehungen und really deep shit, viele Jahre später. Es sind unendlich viele Erinnerungen. Spuren.

Liebe. Ja, das ist das, was bleibt. Und obgleich ich dafür sehr dankbar bin, rinnen mir bei diesen Worten dicke Tränen übers Gesicht. Loslassen kann sehr weh tun, auch – oder gerade – wenn es aus Liebe geschieht.

Bleibt gesund,
Eure Julia

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