Ich bin sehr nachdenklich in den letzten Tagen. Fühle mich matt und bisweilen leer. Obwohl eigentlich gerade alles echt schön ist. Ich versuche mich in diesem Artikel an einer Aufarbeitung.
Wenn ich so drüber nachdenke, hat diese Phase schon vor einigen Wochen begonnen. Einfach so, ohne Vorwarnung. Von heute auf morgen. Ich hatte zunächst mein kleines Hormonexperiment im Verdacht, aber immer alles auf die Hormone zu schieben, erscheint mir etwas zu einfach. Dennoch gab es eine zeitliche Korrelation. Damals hatte ich testweise meine Östrogen-Dosis von 3 auf 4 Hübe pro Tag erhöht, um zu schauen, ob das eine Wirkung auf meine Libido hat, die sich seit der GaOP in den hinterletzten Winkel zurückgezogen hat und keinen Mucks von sich geben mag.
Nach einer Woche beendete ich das Experiment wieder, ohne nennenswerte Veränderung. Die einzig gute Veränderung war, dass es mir stimmungsmäßig total gut ging. Ich war beschwingt, motiviert und verspürte ganz viel Lebensfreude.
Doch schon wenige Tage nach der Reduzierung auf die üblichen 3 Hübe setzte diese komische Phase ein. Die Leichtigkeit war verschwunden. Die Freude auch. Stattdessen fühle ich mich seitdem innerlich leer, matt und erschöpft. Mein Urlaub der vergangenen Woche war zudem nicht einmal besonders erholsam. Vielmehr nahm ich ihn als puren Stress wahr. Jeden Tag standen „Termine“ im Kalender. Für sich betrachtet waren viele davon eigentlich sehr schön, so zum Beispiel eine IKEA-Shopping-Tour mit meiner Mum und den Kindern. Doch der Funke, der mich sonst beschwingt durch die Regalreihen laufen lässt und bunte Ideen für meine Wohnungsdeko erzeugt, sprang nicht über. Alles erschien mir wie ein Einheitsbrei ohne Inspiration. Und so mündete die Shopping Tour am Ende im Kauf von vielen zweifelsfrei praktischen Dingen. Mit Kreativität hatten sie jedoch wenig zu tun.
„Happy Birthday, Juli!“ und soziale Kontakte
Noch so ein schönes Erlebnis war ein Videodreh mit den Mädels, die sich für das Musikvideo-Projekt engagiert hatten. Von den zwei Stunden drehten wir vielleicht 20 Minuten, den Rest der Zeit schwatzten wir ausgelassen bei Kaffee und Kuchen. Das tat wirklich gut und war ein großer Spaß.
Ein großer Spaß war auch meine Geburtstagsfeier am Ende der Woche. Nach vielen, vielen Jahren war es so wunderschön, mal wieder Leute zu einer kleinen Feier einzuladen. Nichts Spektakuläres, aber es war einfach schön, diese lieben Menschen um mich zu haben. Gutes Essen, gutes Trinken, tolle Menschen…mehr braucht es doch eigentlich gar nicht.
Besonders tief berührte mich im Nachgang eine Umarmung von einer guten Freundin, die eine gefühlte Ewigkeit dauerte. In diesem Moment konnte ich sie nicht richtig annehmen, heute würde ich das aber gern nochmal wiederholen. Wir beide haben eine bewegte Vergangenheit, insofern hatte diese Umarmung eine besondere Bedeutung für uns. Vor allem vor dem Hintergrund meiner Transition. Lange Geschichte.
Um all das mal zusammenzufassen und auch noch etwas zu ergänzen:
Aktuell habe ich das Gefühl, dass meine sozialen Kontakte wie die Pilze aus der Erde sprießen. Eine weitere Freundin lud mich zudem heute in ihren Mädelskreis ein, die regelmäßig Zeit miteinander verbringen und unter anderem solch tolle Sachen wie Kosmetik- oder Friseurbesuche gemeinsam gestalten. Das hat mich total gefreut und ich bin schon gespannt auf die anderen Mädels!
Und dann kam die Leere…
Doch was ist es dann, was sich heimlich über mich beugt, wenn der Trubel des Tages verstummt, die Kinder wieder bei ihrer leiblichen Mutter und die letzten Krümel des Geburtstagskuchens vom Boden aufgekehrt sind? Eine dumpfe Leere ist es. Und bisweilen hat sie ihre gute Freundin, die Panik, mit im Schlepptau. Beide grinsen mir mit ihren Fratzen ins Gesicht und ergreifen in diesen Momenten Besitz von mir.
Schon lange hatte ich keine Panikattacken und schon noch viel länger keine Herzrhythmusstörungen mehr. Doch dieser Tage traten beide zurück in mein Leben. Ohne erkennbaren Grund. Ich fühle mich eigentlich nicht gestresst und an sich gibt es nur positive Dinge zu berichten. Etwas scheine ich jedoch zu übersehen, sonst würde mein pubertierender Körper mir nicht solche Signale senden.
Nun kenne ich ja bereits schon lange das Gefühl des „Sozialkaters“, ein Gefühl von Ausgelaugtsein und Leere, wenn ich zu lange unter Menschen war. Das mag nach diesen intensiven Tagen vielleicht auch eine Rolle spielen. Aber nicht in dieser großen Intensität. Da ich sonst keinerlei Erklärung für mein Unwohlsein finden konnte, schob ich den schwarzen Peter versuchsweise doch wieder den Hormonen in die Schuhe und begann zu recherchieren, was ein zu niedriger Östrogenwert so alles bewirken kann.
Nach dieser Einleitung wird es vermutlich niemanden wundern, dass Abgeschlagenheit, Schlafstörungen und sogar Herzrhythmusstörungen zu den entsprechenden Symptomen gehören können. Und da Herzrhythmusstörungen für mich seit jeher ein Trigger für Angst vor dem eigenen Tod sind, sind die Panikattacken wohl auch nicht allzu weit hergeholt.
Ambivalenz
Aber wie abstrus das alles doch ist. Ich genieße die vielen neuen sozialen Kontakte, die Zeit mit meinen Lieblingsmenschen und die tollen Dinge, die wir gemeinsam erleben. So fühlt sich Leben an! Und gleichzeitig entzieht es mir so schnell Energie, wie ich es noch nie erlebt habe. Ob es einer vorsichtigeren Umgewöhnung bedarf nach all der Zeit in Lockdown und sozialen Abständen? Habe ich mir in all der Begeisterung vielleicht einfach zu viel auf einmal zugemutet?
Ich kann diese Fragen im Augenblick nicht abschließend für mich klären. Was ich verspüre, ist ein starkes Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein. Denn bei all den tollen Kontakten bin ich so sehr im Außen, dass ich immer wieder die Verbindung zu mir selbst verliere. Da diese Situationen jedoch so voller Energie und Leben sind, merke ich das meist erst, wenn ich wieder mit mir allein bin. Die Leere kehrt dann ein und es braucht einige Tage, bis ich wieder im Gleichgewicht bin. Heute dauert dieser Prozess viel länger als früher und hormonell bedingt nehme ich die damit verbundenen emotionalen Ausschläge auch wesentlich intensiver wahr.
Tja…und darüber hinaus verspüre ich schon seit meinem Miniexperiment den dringenden Wunsch, endlich meine neuen Hormonwerte messen zu lassen. Ich will endlich Gewissheit darüber haben, wo ich hormonell nach der GaOP stehe. Doch bis dahin dauert es noch einige Tage.
Was bleibt ist eine innere Zerrissenheit zwischen einem alten introvertierten Ich, das zunehmen von einer extrovertierteren und lebensfrohen jungen Frau abgelöst wird. Sicherlich wird dieser introvertierte Kern niemals ganz verschwinden, doch mit zunehmender Sicherheit und Zufriedenheit mit mir als Frau bedarf es dieses Schutzes immer weniger.
Der Schmetterling darf seinen Kokon verlassen, zögert bisweilen. Doch sie spricht liebevoll in mir:
„Ich weiß, du hast Angst, mein Schatz. Und das ist ganz normal.
Doch schau hinaus in die Welt, Liebes! Schau hinaus.
Sie ruft dich. Dein neues Leben ruft dich!
Flieg, Liebes, flieg!“