Briefpapier

Dies ist ein Brief. An jemanden, der sein Leben vor rund 20 Monaten hinter sich gelassen hat und den ich heute in tiefer Dankbarkeit verabschieden möchte. 

Geliebter Bruder,

wie du dir sicher denken kannst, ist es mitten in der Nacht, als ich diese Zeilen schreibe. Du weißt ja, ich bin eine Nachteule. Ach, wem sage ich das?! Vor gut 20 Monaten begannen sich unsere Wege unaufhaltsam zu trennen, nachdem wir ein Leben lang gemeinsam durch Dick und Dünn gegangen waren. Oder vielmehr: DU bist für uns durch Dick und Dünn gegangen.

Ich frage mich manchmal, wieviel von dir noch in meinem Leben ist und dann fallen mir so viele Dinge ein. Das Mobbing in der Schule, das du ertragen musstest. Die Scham und Irritation, dass ich ein Teil von dir war. Die Trauer und Wut darum, dass ich dieses Gefängnis nicht verlassen konnte. Dieses Alien-Gefühl, dass du so oft gefühlt hast und deine Verzweiflung, der Rolle des Mannes in dieser Gesellschaft gerecht werden zu müssen, aber nicht zu können. Aber auch solch wundervolle Geschenke wie deine beiden Töchter kommen mir in den Sinn.

So viel von dir steckt also noch immer in mir und dennoch…bist du fort. Manchmal möchte ich sagen, du seist tot. Und in gewisser Weise stimmt das auch. Du hast mir stückchenweise die Führung übergeben, du mutiger, starker Mensch! Du hast losgelassen. Du hast in festem Glauben an mich das Leben losgelassen, in dem du trotz allem so verwurzelt warst. In dem du geliebt wurdest, aber in dem du niemals wirklich glücklich warst. Also hast du beschlossen, dem Schmerz ein Ende zu setzen und dieses Leben zu beenden.

Doch in mir lebst du weiter, so viel von dir. Deine Erinnerungen, deine Fähigkeiten, deine Erfahrungen, deine Narben und Lernaufgaben. Dein Wesen. Mit allen Stärken und Schwächen. Sie waren mein Startkapital, meine Basis, um wiedergeboren in ein neues Leben zu starten.

Und dafür möchte ich dir danken. Du hast weiß Gott genug Leid ertragen müssen in deinem Leben. Das hattest du nicht verdient. Doch weißt du was? Es hat dich stark gemacht. Es hat dich für das gerüstet, was am Ende auf dich wartete. Es hat mich stark gemacht.

Ich muss erkennen, dass dein Ich langsam verblasst. Der Mensch, der du warst, existiert nicht mehr, nur seine Spuren sind im Sand noch zu erkennen. So lange, bis die leisen Wellen des Lebens sie verwischen und sie wieder einen unbestimmten Teil des Universums werden lassen.

In den 20 Monaten habe ich nie wirklich Abschied von dir genommen, denn alles passierte so schnell und doch schleichend. Plötzlich öffnetest du meine Zelle, ließt mich frei, übergabst mir das Steuer und du wurdest selbst immer weniger. Ich will nicht leugnen, dass ich mich dabei manchmal etwas orientierungslos fühlte, doch nach und nach lernte ich zu nutzen, was du mir vermacht hast.

Mein Lieber. Ich weiß, auch du hast Abschiede von geliebten Personen nie gemocht. Doch ich glaube, so langsam ist der Zeitpunkt gekommen, dir “Lebe wohl” zu sagen. Auch Tränen sind erlaubt. Endlich.
Du warst mir ein guter Freund, Bruder und Mentor. Gräme dich nicht, dass wir uns nicht früher haben kennenlernen dürfen, ich weiß, du hast stets dein Bestes für uns beide gegeben.

Ich umarme dich ein letztes Mal, denn mir ist klar, dass ich dich gehen lassen muss. Es ist nun an mir, mein eigenes Leben zu leben, mich selbst darin zu finden, zu erkennen und zurecht zu finden. Dank dir habe ich alles dafür, was ich brauche.

Ich weiß, dass du oft nach dem Sinn des Lebens gesucht hast…ich glaube, du hast ihn am Ende gefunden. Deine Aufgabe in diesen Zeiten ist getan und du darfst endlich Ruhe finden.
Und obgleich du heute von mir gehst, wirst du stets ein Teil von mir sein.

Ich danke dir für alles! Ohne dich wäre ich nicht ich. Und das vergesse ich dir nie.

Lebe wohl, mein Herz!

In Liebe,
Julia

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